Martin Luther – eine Kultfigur und ihr Sockel
Zur Einführung
Hole Rößler
„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir! Amen!“ Der vielleicht bekannteste Ausspruch des Reformators Martin Luther (1483–1546), der Legende nach 1521 auf dem Wormser Reichstag gefallen, ist auf dem Sockel des 1868 in Worms errichteten Lutherdenkmals zu lesen (Abb. 1).1 Die behauptete Alternativlosigkeit gleichsam aus dem Munde eines zur Unbeweglichkeit bestimmten Standbildes zu vernehmen, entbehrt nicht der Ironie – unfreiwillig verweist das Denkmal mithin darauf, was mit Personen geschieht, wenn sie zum Gegenstand der Erinnerungskultur werden.
Von den etlichen anekdotischen Begebenheiten, die Christoph Martin Wieland (1733–1813) für seine Geschichte der Abderiten (1774–1780) erdichtete, behandelt eine den Zusammenhang von Kult und Sichtbarkeit. Die einfältigen Bewohner des antiken Abdera kommen in dieser Episode in den Besitz einer Venusstatue aus der Hand des bedeutenden spätklassischen Bildhauers Praxiteles. Da sie zu der Ansicht gelangen, dass ein derartiges Meisterwerk, „das der Stadt so viel Ehre macht, und so viel gekostet hat“, einen besonderen Platz erhalten müsse, wird die fünf Fuß (etwa 1,40 m) große Figur auf einen achtzig Fuß (etwa 22,5 m) hohen Obelisken gestellt. „[W]iewohl es nun unmöglich war, zu erkennen, ob es eine Venus oder eine Wäschernymphe vorstellen sollte, so nöthigten sie doch alle Fremden, zu gestehen, daß man nichts vollkommeneres sehen könne“.2
Wielands satirische Erzählung gemahnt daran, dass übermäßige Verehrung Gefahr läuft, ihren Gegenstand aus dem Blick zu verlieren. Die Entzogenheit des Gegenstandes eröffnet die Möglichkeit eines Sprechens über ihn, das nicht mehr durch persönlichen Augenschein überprüfbar ist und das nur mehr von den Vorstellungen und Absichten der Akteure bestimmt wird. Als Denkbild ist Wielands Venusstatue geeignet, den ‚Sockel‘ in seiner Bedeutung für die Wahrnehmung und Beurteilung dessen zu reflektieren, was auf ihm steht. Dies ist nirgends besser und vielleicht auch nirgends erschreckender zu beobachten als bei Kultfiguren, von denen Martin Luther im deutschsprachigen Kulturraum eine der langlebigsten ist.
Insbesondere das 19. Jahrhundert stellte Luther auf zahlreiche Sockel. Auch zuvor hatte es Formen der öffentlichen Lutherverehrung gegeben, doch nun etablierte sich mit dem Denkmal eine neue Form, die aufs Engste mit politischen Absichten verbunden war:3 1803 – Wielands Abderiten waren gerade in französischer Übersetzung erschienen – erging ein öffentlicher Spendenaufruf der Vaterländisch-literarischen Gesellschaft der Grafschaft Mansfeld zur Errichtung eines Lutherdenkmals. Die derzeit verfolgte Idee, so war zu lesen, sei „ein kolossalischer Obelisk“.4 Dieser aus Eisen gegossene Obelisk „übertreffe an Höhe alle übrigen, selbst den höchsten zu Rom, er erhebe sich wo möglich hundert Fuß über das Postament“, welches wiederum eine Höhe „von 15 oder mehrern Füßen“ haben solle. Eine Statue Luthers war auch Teil dieser Idee, doch sollte diese ihren Platz nicht auf dem Obelisken finden, sondern „in einer Nische von 20 Fuß Höhe“, weswegen sie ebenfalls von „kolossalischer Größe“ sein müsse.5
Dieses Denkmal sollte nach dem Willen der Initiatoren nicht allein der Erinnerung an die Person dienen, sondern deren Würdigung durch die Nation veranschaulichen und ein Zeugnis sein für die Befolgung der von Luther aufgestellten „Moralgesetze“ sowie für den „Gesammtwillen[ ] und die Forderung der Nation, dem Verehrten nachzufolgen“.6 Es sollte ein „National-Denkmal“ sein, weswegen wohl auch an anderer Stelle gefordert wird, das gewaltige Postament aus „vaterländischem Stein“ zu hauen.7 Dieses hätte Luther mithin zum Ahnherrn des Nationalgedankens erhoben. Weniger in Religion (oder gar Theologie) war seine verbindende Leistung zu suchen, als vielmehr in der „Moral“, die dem politischen Gemeinwesen – unabhängig der Konfession – seine Form gegeben habe.8
Das 1821, nach langen Verzögerungen in den Planungs- und Ausführungsphasen,9 enthüllte Lutherdenkmal auf dem Marktplatz von Wittenberg war das erste öffentliche, freistehende Denkmal einer nichtadeligen Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum – Dürer, Schiller und Goethe folgten bald nach.10 Für erhebliche Diskussionen hatte nicht zuletzt die Gestaltung des Sockels gesorgt: Die ursprünglich von Johann Gottfried Schadow (1764–1850) vorgesehenen Reliefs wurden auf Intervention von Friedrich Wilhelm III. (1770–1840) verworfen und durch vier Inschriftentafeln ersetzt, von denen zwei Aussprüche Luthers tragen.11
Es wäre also vorschnell, die Funktion der Sockel bzw. Postamente allein auf eine (gleichermaßen physische wie symbolische) Erhöhung zu beschränken und ihre Ausstattung als im Grunde verzichtbares Beiwerk einer Statue zu betrachten. Denn angesichts der frappierenden Gleichförmigkeit der meisten Lutherstatuen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit ihrem charakteristischen Schrittmotiv waren es gerade die Sockel, dank denen die Denkmäler über ihre memorative Funktion hinaus zusätzliche Bedeutungsschichten erhielten.12 Gut erkennbar ist dies am aufwendigen, bühnenartig konzipierten Sockelprogramm des Wormser Lutherdenkmals und dessen Nachfolgern.13 Das von Paul Martin Otto (1846–1893) und Robert Toberentz (1849–1895) geschaffene, 1895 eingeweihte und 1945 zerstörte Lutherdenkmal am Neuen Markt in Berlin etwa besaß sechs lebensgroße Skulpturen von Humanisten und Reformatoren, die um den Sockel herum in sitzender Haltung angebracht waren (Abb. 2)14.
Die zentrale Lutherfigur ist hier als im Wortsinne herausragende Gestalt des Reformationszeitalters dargestellt, als Kopf und Anführer einer durch die anderen Skulpturen repräsentierten Bewegung. Zugleich erfährt sie durch die prominenten Begleitfiguren auf den Treppenwangen – Franz von Sickingen und Ulrich von Hutten – eine weitere, zeitgeschichtlich bedeutsame Charakterisierung. Die beiden Reichsritter waren im Zuge der Reichsgründung 1871 zu Vorkämpfern der nationalen Einheit stilisiert worden.15 Bei dem Berliner Denkmal flankieren sie nicht nur den Aufgang, sondern bilden in Frontalansicht mit der Lutherfigur kompositorisch ein Dreieck. Dies unterstreicht die politische Aussage des Denkmals: Luther galt als Nationalheld, mit dessen ‚Kampf gegen Rom‘ der lange Weg zu Einheit und Souveränität Deutschlands begonnen hatte – und diente nunmehr als historische Legitimationsfigur des Kaiserreichs.16 Man mag ein derartiges Denkmal zu Recht als „monumentalisiertes Klischee ohne jeden geistigen Inhalt“ bewerten, geistes- und kulturgeschichtlich bedeutungslos ist es deswegen aber nicht. Denn so wenig es über Person und Werk Luthers mitteilt, so viel verrät es über das dominierende Lutherbild in seiner Entstehungszeit. Luther – das Werkzeug Gottes, ein Erzketzer, früher Pionier der Kleinfamilie oder „Führer der Nation“?17 Jede Zeit hatte ihre Lutherbilder und ‚Sockel‘, auf die sie den Reformator stellte, um ihn diesem Bild anzuverwandeln. Dies taten jene, die Luther zu einem neuen Heiligen erklärten, wie auch diejenigen, die Luther als Repräsentanten der Irrlehre darstellten (Abb. 3).18
Die Ausstellung Luthermania – Ansichten einer Kultfigur möchte zeigen, dass diese Lutherbilder eine Herkunft und eine Geschichte haben, dass sie geformt sind von der sozialen und politischen Lage, von kulturellen Entwicklungen und Krisen der jeweiligen Zeit. Die Objekte, die in der Ausstellung und im vorliegenden Katalog vorgestellt werden, sind mithin als ‚Sockel‘ aufzufassen, insofern sie nicht einfach Luther zeigen, sondern die Aufgabe hatten, eine bestimmte, mit Vorannahmen, Wertzuschreibungen, Idealen und Absichten behaftete ‚Sichtbarkeit‘ herzustellen – eine vieldeutige, komplexe und womöglich widersprüchliche Person zu einer klar konturierten, in ihrer Bedeutung unmissverständlich, ja unmittelbar evidenten Figur zu reduzieren. Sie haben ‚Luther‘ gemacht. Daher sind sie mehr als nur materielle Zeugnisse vormodernen Geisteslebens: In ihrer Zeit ‚vermittelten‘ sie nicht einfach vorgängige Lutherbilder, sondern stellten sie in dem Maße her, wie sie Teil sozialer Kommunikationspraktiken waren.19 Als Elemente in Praktiken des Lesens und Sprechens, des Zeigens und Verbergens, des Warenhandels und des Gabentauschs, der Verehrung, der Kritik und der Schmähung haben alle diese Objekte aktiv an der Entstehung, Verbreitung und dem Wandel der Vorstellungen über Luther mitgewirkt.
Tatsächlich sind die Darstellungsweisen, die literarischen, ikonographischen und performativen Konstruktionen Luthers Legion. Unterschieden werden muss dabei natürlich, ob es sich um ein propagandistisch verklärtes oder polemisch verzerrtes, ein theologisch begründetes, politisch geschaffenes oder mit den – freilich ebenfalls von Vorannahmen geprägten – Methoden der Geschichtswissenschaft gewonnenes Lutherbild handelt. Ebenso ist der mit den Mitteln der Poesie oder der bildenden Künste erschaffene Luther ein anderer als der Luther der Volkskunst und der Legenden. Doch sind diese kategorialen Grenzen in der Lebenswirklichkeit einer Kultur wohl durchlässiger als es dem Willen zur analytischen Differenzierung lieb ist. Beständig wurden über die Jahrhunderte und über konfessionelle, soziale und mediale Schranken hinweg Erzählungen, Motive und Bilderfindungen aufgegriffen, variiert und den eigenen Absichten und Ansichten über Luther angepasst.
Der Forschung ist die außergewöhnliche Vielzahl an Lutherbildern nicht entgangen. Der deutsche Historiker und Theologe Heinrich Böhmer (1869–1927) konstatierte 1910:
[E]s gibt so viele Luthers, als es Lutherbücher gibt. So gewaltig gehen die Ansichten der Autoren über Wesen und Wert von Luthers Person und Werk auseinander. Den einen erscheint er als Prophet Gottes, den anderen als ein Wechselbalg des Satans, den einen als das Muster eines guten Staatsbürgers, trefflichen Vaters, zärtlichen Gatten, den anderen als ein Verbrecher von tiefster sittlicher Verkommenheit, den einen als produktives Genie gewaltigster Art, den anderen als ein geistig minderwertiges Individuum, den einen als einer der größten Aufklärer aller Zeiten, den anderen als Dunkelmann, Fürstenknecht und Scharfmacher schlimmster Sorte.20
Knapp 20 Jahre später, unter dem Eindruck einer Umdeutung Luthers zum „großen Deutschen“, schrieb der reformierte Theologe Karl Barth (1886–1968): „Die Zeiten nehmen sich offenbar das Recht, aus Luther (auch aus Luther!) je ihr eigenes Symbol zu machen. Ob sie das Recht haben, indem sie es sich nehmen, ist eine andere Frage.“21 Nun ist es zwar eine für die Geschichtswissenschaft recht triviale Feststellung, dass jede Zeit sich ihr eigenes Bild von der Vergangenheit und den in ihr als relevant erachteten Persönlichkeiten macht, doch kann die über Jahrhunderte andauernde Inanspruchnahme Luthers als exzeptionell gelten. Aus historiographiegeschichtlicher Sicht erscheint Luther als „Extremfall innerhalb des Problemfeldes Objektivität und Parteilichkeit“.22 An keiner anderen Person lassen sich die historisch variablen Formen, Strategien und Absichten einer Personalisierung von Geschichte so gut beobachten wie an Luther: „[D]er Geist der Zeit schafft sich sein Luther-Bild, und das Luther-Bild einer Zeit wiederum wird zum Spiegelbild ihrer eigenen geistigen Physiognomie.“23
An der bis heute wirksamen Reduktion der Geschichte, dem „Mythos der Reformation in Person“ hatten bereits Luther und seine ersten Biographen intensiv mitgearbeitet:24 „Solus primo eram.“ – „Anfangs war ich allein“, schrieb Luther 1545 in einem autobiographischen Fragment.25 Auch Darstellungen als „Prophet der Deutschen“ oder „Apostel und Evangelist“, die das Lutherbild in den maßgeblichen, von Philipp Melanchthon (1497–1560), Johannes Mathesius (1504–1565) und Cyriacus Spangenberg (1528–1604) verfassten Lebensbeschreibungen prägen, sind von Luther selbst vorweggenommen worden.26 Der notorisch betonte Status des Exzeptionellen, der Abstand zum Gewöhnlichen bildet in der apologetischen Literatur das Fundament der besonderen Autorität Luthers.27 Darüber hinaus besitzen die Praktiken und literarischen Darstellungen der Lutherverehrung weitere typische Merkmale des Personenkults, wie sie von Vasilios Makrides herausgearbeitet wurden:28 Luther erfreute sich bereits zu Lebzeiten einer kultischen Rezeption;29 Leben und Werk wurden als Einheit dargestellt und wahrgenommen; nach dem Tod erfolgte eine „Reliquienbildung“ und eine entsprechende Praxis der Verehrung; in biographischen Zusammenhängen ist eine „religiöse Beschreibungssprache“ zu beobachten. Entscheidend für die Ausprägung von heterogenen Lutherbildern aber ist, dass der Kult um den Reformator lange Zeit keine oder zumindest keine einheitliche und übergreifende „Institutionalisierung und Normierung“ erfuhr und daher in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Funktionen existierte.30
Die historischen Konjunkturen der Lutherbilder sind seit dem frühen 20. Jahrhundert vielfach beschrieben worden.31 In der Reformationszeit überwog demnach die heroische Darstellung: In Text und Bild wurde Luther noch zu Lebzeiten als Kirchenlehrer, Prophet und (Quasi‑) Heiliger verklärt – häufig als Gegenbild zu den bekämpften Vertretern des Papsttums. Darauf aufbauend geriet Luther unter den Händen der protestantischen Orthodoxie zum auserwählten Werkzeug Gottes und zur unantastbaren theologischen Autorität. Der Pietismus des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts interessierte sich entsprechend seiner Fokussierung auf die individuelle Innerlichkeit vor allem für den ‚Menschen‘ Luther und dessen persönliche Religiosität. Der Reformator wurde vor allem in seiner Rolle als Wegbereiter eines ‚gereinigten‘, allein auf dem Glauben des Einzelnen beruhenden Christentums gewürdigt. Vertreter der Aufklärung wiederum sahen in Luther weniger den Theologen als den Philosophen und einen Vordenker der eigenen Freiheitsideale. Für sie war er Genie und Tatmensch zugleich, der begonnen habe, die Menschen aus Unmündigkeit und Aberglaube herauszuführen. Der Kulturkampf und der Nationalismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts deuteten die Reformation als primär politisches Ereignis und installierten Luther als nationale Heldenfigur, als Ahnherren des modernen Staats und – damit durchaus zusammenhängend – als bürgerlichen Hausvater. Im Nationalsozialismus wurde das idealistische und nationalistische Lutherbild ideologisch überformt. Der Reformator geriet zum Gewährsmann von rassistisch-antisemitischer Politik und Reichsideologie. In der Nachkriegszeit stritt man um den Nachweis einer historischen Mitschuld Luthers an Holocaust und Weltkrieg. Dem schloss sich einerseits eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Entstehung und Entwicklung der verschiedenen Lutherbilder an. Andererseits führte der interkonfessionelle Dialog dazu, sich wieder verstärkt theologischen Inhalten zu widmen und zumindest zeitweilig Abstand zur Person Luthers zu gewinnen. Dessen ungeachtet scheint der Lutherkult ungebrochen, wie die jüngste Umbenennung des Reformationsjubiläums zum Lutherjahr bzw. „Luther 2017“ und die damit verbundenen Veranstaltungen erkennen lassen.32
Die Ursachen für diesen bemerkenswerten, in seiner Vielgestaltigkeit wohl einzigartigen Entwicklungsgang der Ansichten über eine historische Person wurden verschiedentlich zu ergründen versucht. Für Böhmer etwa war wesentlich die Psyche der Historiker für die Verschiedenheit der Lutherbilder verantwortlich: „Sie ließen sich in ihrem Urteil leiten durch die Ideen und Ideale ihrer Konfession und ihres Zeitalters und legten sich darnach ganz unwillkürlich die Überlieferung zurecht.“33 Es gereicht Böhmer fraglos zur Ehre, dass er davon absah, divergierende Positionen einfach abzuqualifizieren, und sie stattdessen auf eine grundlegende Subjektivität der Geschichtsschreibung zurückführte. Doch obgleich spätestens seit Hayden White der konstruktive Charakter von Geschichte außer Frage steht, vermögen Begründungen nach dem Modell „Wandel des Zeitgeistes“ noch nicht zu erklären, wieso im Falle Luthers derartig viele und unterschiedliche Ansichten überhaupt möglich waren.
Wenn es in älteren Studien die bis zur Widersprüchlichkeit reichende Komplexität der Persönlichkeit Luthers ist, deren zahllose Einzeläußerungen Ansatzpunkte für die Schaffung der verschiedensten Lutherbilder geboten haben,34 so hat dieses Argument heute erheblich an Überzeugungskraft eingebüßt.
Für den Jesuiten Wolfgang Seibel war es die Rolle Luthers als zentrale protestantische Identitätsfigur, die deren stete Anpassung an sich ändernde Grundanschauungen und Bedürfnisse bedingt habe. Auf Luther zu verzichten hätte demnach bedeutet, die religiöse Identität aufzugeben.35 Angesichts zahlreicher, tendenziell profaner Lutherbilder seit dem 18. Jahrhundert kann freilich bezweifelt werden, dass es stets eine religiöse Identität ist, die durch Lutherbilder geschaffen, legitimiert und stabilisiert wurde. Dennoch ist mit dem Fokus auf die soziale Funktion der Lutherbilder ein produktiver Erklärungsansatz gefunden. Über religiöse Bezüge und konfessionelle Grenzen hinweg wurde Luther zu einem Instrument „der Selbstvergewisserung und Selbstlegitimierung“.36 Profanisierte, sozial und politisch motivierte Lutherbilder wurden schon lange vor der Aufklärung entworfen und propagiert: So verdankte sich das erste Reformationsjubiläum 1617 vor allem dem politischen Willen protestantischer Fürsten, die innerprotestantischen Verwerfungen – insbesondere zwischen Reformierten und Lutheranern – beizulegen.37 Mit der Fokussierung auf Person und Leben Luthers in Reden, Predigten und Gebeten, in Flugschriften und Flugblättern sowie im Rahmen von Festakten und in Theateraufführungen wurde versucht, theologische Streitthemen zu vermeiden und eine gemeinsame Identifikationsfigur zu schaffen.38 Das Identifikationspotential Luthers wurde seitens der katholischen Polemik im Grunde noch verstärkt, wenn sich die Kritik am konfessionellen Gegner der persönlichen Desavouierungen des Reformators bediente.39 Beide Sichtweisen ähneln sich in ihrer Engführung auf die Person: Luther stand für die Reformation und deren Anhänger – die Lutheraner. Von Anfang an, seit er die Bühne der Öffentlichkeit betreten hatte, war ‚Luther‘, wie Karl Barth treffsicher schrieb, „Symbol“ – ein Symbol mit einer spezifischen sozialen Produktivität: In beiden konfessionellen Lagern, freilich unter verschiedenen Vorzeichen, wirkte die Berufung auf ‚Luther‘ nach ‚innen‘ integrativ und nach ‚außen‘ desintegrativ.40 Dies ist ein wesentliches Kennzeichen von Kultfiguren – in der modernen Populärkultur ist meist davon die Rede, dass sie „polarisieren“. Die primär soziale Funktion von Kultfiguren bedingt ihre semantische Elastizität, die tendenziell zunimmt, je länger der Kult andauert, das heißt die soziale Funktion erfolgreich ist und einen Anreiz zur Partizipation bietet. An das gesellschaftlich und politisch wirksame Symbol knüpften sich Zuschreibungen, mit denen unterschiedlichste Ansprüche und Absichten ‚in Luthers Namen‘ formuliert werden konnten. Die erkennbar zunehmende Loslösung von konkreten theologischen Fragen und historischen Zusammenhängen, ist gleichermaßen Beleg für die umfassende Wirksamkeit des Symbols ‚Luther‘ wie für dessen inhaltliche Unbestimmtheit. Im öffentlichen Diskurs wurde Luther zu einem „offenen Signifikanten“ in dem Sinne, dass er als Verkörperung unterschiedlicher, sogar widersprüchlicher Ansichten, Vorstellungen und Erwartungen erscheinen und somit ähnlich politischen Symbolen als gemeinschaftsbildendes Identifikationsobjekt für eigentlich heterogene soziale Gruppen dienen konnte.41 Genau genommen gilt also: „nicht die Person als solche, sondern das, wofür sie stand bzw. was sich in und an ihr manifestierte, begründete […] ihre Verehrungswürdigkeit“.42 Was sich aber in und an Luther manifestierte, das war keineswegs endgültig festgelegt.
Die semantische Offenheit des Symbols ‚Luther‘ ist freilich nicht gleichbedeutend mit Beliebigkeit, sondern begründet die historischen Konjunkturen der Lutherbilder. Als funktionalisierbare Identifikations- und Legitimationsfigur wurde ‚Luther‘ zum Akteur in theoretischen wie gesellschaftlichen Mobilisierungs- und Durchsetzungsprozessen. Die Unterschiede der Lutherbilder sind nicht Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels, sie haben an diesem Wandel vielmehr mitgewirkt, indem sie produziert, verbreitet, ersetzt und bekämpft wurden. Die zahllosen Gemälde und Drucke mit Luthers Porträt, die seit 1520 in der Wittenberger Cranach-Werkstatt hergestellt wurden, waren nicht bloßer Ausdruck eines „Zeitgeistes“, sondern Elemente einer flächendeckenden Bildpolitik, die sehr bewusst ein bestimmtes ‚Image‘ vermitteln wollte – um dadurch (kirchen‑) politische Ziele zu erreichen.43
Wie für die Moderne ist indes auch für die Frühe Neuzeit ein Pluralismus koexistierender, gleichwohl freilich nicht notwendig ebenbürtiger ‚Luther‘ auszumachen.44 ‚Luther‘ ist ein Symbol – aber mit veränderlicher Form und wechselnden Inhalten. Dies wird unmittelbar ersichtlich an der Vielzahl unterschiedlicher Bildnistypen, die jeweils dazu beitrugen, einen anderen ‚Luther‘ entstehen zu lassen.
Zwar hat sich der Typus des „feisten Doktors“ erkennbar als Markenzeichen durchgesetzt (Abb. 4),45 doch existiert eine Reihe an Alternativ- oder dezidierten Gegenbildern. In einem ernst gemeinten „Spiel von Bildern“46 arbeiteten sie unablässig daran mit, durch ‚Luther‘ Identitäten herzustellen (Abb. 5).
Die Ausstellung Luthermania – Ansichten einer Kultfigur zeigt in diesem Sinne vier ‚Spielfelder‘, in denen sich Lutherbilder entwickelten und agierten: Luther der Heilige, Luther der Teufel, Luther die Marke und Luther der Deutsche. Der Großteil der Objekte und Bücher gehört zum Bestand der Herzog August Bibliothek und stammt vornehmlich aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Gleichwohl soll damit keineswegs nur die Geschichte der Lutherbilder in der Frühen Neuzeit erzählt werden. Fraglos verdankt sich ein nicht geringer Teil der heutigen Lutherbilder der politisch gesteuerten, im öffentlichen Raum noch immer weithin sichtbaren Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts sowie einer damit einhergehenden „protestantismuszentrischen und deutschnationalen Überlieferungsgeschichte“.47 Doch hat das 19. Jahrhundert Luther ebenso wenig aus freien Stücken erfunden wie sich ‚der wahre Luther‘ in vorangegangenen Zeiten umstandslos finden ließe. Vielmehr haben die nicht selten ins Mythische tendierenden Lutherbilder der Frühen Neuzeit die moderne Kultfigur vorbereitet und möglich gemacht.48 Im 16. und 17. Jahrhundert wurde ‚Luther‘ zum anthropomorphen Symbol, zur Verkörperung zentraler gesellschaftlicher Phänomene und Probleme, zu einem Medium relevanter „Faszinationstypen“:49 So realisierten sich über Jahrhunderte hinweg die Faszinationstypen „Heiliger“, „Antichrist“ und „Nation“ in ‚Luther‘, ohne dass dabei stets dieselbe Vorstellung oder derselbe Begriff von „Heiligkeit“, „Antichrist“ oder „Nation“ bestimmend war.
Luther durchging Prozesse der Mythologisierung und der Historisierung, der Verklärung und der Desavouierung – und nicht zuletzt der Verkitschung und Vermarktung. Besteht angesichts dessen überhaupt eine Chance, hinter den vielen Lutherbildern den historischen, den ‚echten‘ Luther zu finden? Das ist nicht auszuschließen. Die weitaus interessantere Entdeckung, die an den hier vorgestellten Objekten gemacht werden kann, sind Mechanismen der historiographischen und mythographischen Konstruktion und der ihnen zugrundeliegenden sozialen und symbolischen Ökonomien, die sich an Luther wie an kaum einer anderen Figur abzeichnen. Durch die Auswahl der Exponate versucht die Ausstellung den vielfältigen „Ansichten“ der Kultfigur ‚Luther‘ Rechnung zu tragen. Wenn diese Multiperspektivität dazu führt, den scheinbar vertrauten Luther zu verfremden, ist das durchaus beabsichtigt. Gleichwohl geht es nicht darum, Luther vom Sockel zu stoßen, sondern durch den Fokus auf den Sockel selbst auch die Selbstverständlichkeit heutiger Lutherbilder zu verunsichern. Das ist keine ganz neue Idee. Bereits im „Lutherjahr“ 1983 war es ein erklärtes Ziel der Herzog August Bibliothek, die Klischees um Luther „zur Seite zu räumen“, wie der damalige Direktor Paul Raabe (1927–2013) schrieb.50 Mit Klischees aufzuräumen ist ein unabschließbarer Prozess, den diese Ausstellung fortsetzen soll.
1 Kammer 2004, S. 248.
2 Wieland 2009, S. 162.
3 Zur Vorgeschichte der Lutherdenkmäler vom 16. bis ins 18. Jahrhundert siehe Kammer 1996.
4 Zit. n. Vaterländisch-literarische Gesellschaft 1804, S. 8. Der Aufruf erschien Anfang des Jahres 1804 u. a. in der Kurpfälzischen Münchner Staats-Zeitung (Nr. 18, 21.1.1804, S. 73) und im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literatur-Zeitung (Nr. 18, 1.2.1804, Sp. 139f.).
5 Ebd., S. 55.
6 Ebd.
7 Ebd., S. 38, 55.
8 Zu dieser Funktion siehe auch Schuchard 1996, S. 74.
9 Kammer 2004, S. 172f. Siehe dazu Klingenburg 1986; Krenzlin 1995.
10 Vgl. Scharf 1984, S. 179; Schlie 2002, S. 37.
11 Weber 1972, S. 199; Krenzlin 1995, S. 399ff.
12 Siehe dazu Kranich 2012; Myssok/Reuter 2013; Rusche 1989. Diese Funktion des Sockels ist freilich kein Spezifikum der Lutherdenkmäler des 19. Jahrhunderts.
13 Vgl. Kammer 2004, S. 247–250.
14 Ebd., S. 53f.
15 Vgl. Weber 1972, S. 211.
16 Siehe dazu Greschat 1997; Rausch 2006, S. 562–565.
17 Treitschke 1883, S. 470.
18 Vgl. Scribner 1994, S. 231.
19 Vgl. Latour 1996, bes. S. 48ff.
20 Böhmer 1910, S. 7.
21 Barth 2013, S. 486.
23 Seidlmayer 1961, S. 18. Vgl. Seibel 1962, S. 3f.
24 Burkhardt 2002, S. 26. Zur Relativierung des vermeintlichen ‚Alleingangs‘ Luthers siehe etwa Krentz 2014, S. 111; Leppin 2005, bes. S. 22f.
26 Siehe die Zusammenstellung entsprechender Textstellen bei Holl 1921, S. 335 u. passim.
27 Vgl. Makrides 2008, S. 267.
28 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 268–276.
29 Siehe dazu Moeller 2001.
30 Makrides 2008, S. 263.
31 Stephan 1907 bzw. Stephan 1951; Böhmer 1910; Wolff 1938; Zeeden 1950–1952; Seidlmayer 1961; Seibel 1962; Bornkamm 1970; Glaser/Stahl 1983; Hensing 1984; Lohse 1984; Medick/Schmidt 2004, S. 16–25; Wendebourg 2014; Kuhn/Stüber 2016. Einen reich bebilderten Überblick bietet Joestel 2013. Mehr oder weniger implizit fokussieren diesen Studien auf die protestantischen resp. reformierten Räume und Bevölkerungsschichten. Für die katholische Perspektive siehe Herte 1943; Jedin 1966; Lutz 1977. Speziell für die Frühe Neuzeit siehe Kat. Wolfenbüttel 1983, S. 13–56; Kaufmann 2013; Koch 1986; Kolb 1999; Lienhard 1978; Pohlig 2007, S. 100–107; Scribner 1986a sowie die Beiträge von Robert Kolb und Harald Bollbuck in diesem Band. Für das 18. Jahrhundert siehe Beutel 2015; Holsing 2009. Für die Moderne siehe bspw. Laube/Fix 2002; Lehmann 2004; Loewenich 1966; Moeller 1983; Roy 2000; van Ingen/Labroisse 1984; Steinmetz 1986; Winterhager 1989. Zusammenfassend Münkler 2010, S. 181–196.
32 Siehe dazu u. a. Reinhard 2014.
33 Böhmer 1910, S. 7f. Vgl. Seibel 1962, S. 17.
34 U. a. Seidlmayer 1961, S. 18; Seibel 1962, S. 35 – aber auch noch Glaser/Stahl 1983, S. 10.
35 Seibel 1962, S. 18f. Vgl. ebd., S. 35. Zur Konstitution einer katholischen Identität durch Abgrenzung von Luther (bzw. bestimmten Lutherbildern) siehe Unterburger 2015, S. 9f. u. passim.
36 Hensing 1984, S. 5.
37 Kaufmann 2010, S. 298f.; Schönstädt 1978, S. 13–20, 254–303 u. 319f.
38 Vgl. Hanstein 2013, S. 555f.; Kaufmann 2010, S. 303–315; Ligniez 2012; Pohlig 2007, S. 117–120; Wendebourg 2014, bes. S. 261–267. Zur Verbreitung von biographischen Informationen über Luther siehe Kaufmann 2010, S. 288ff.
39 Zum katholischen Lutherbild siehe Burschel 2004; Herte 1943.
40 Vgl. Korff 1997, S. 164.
41 Zur Theorie des offenen Signifikanten siehe Laclau 2002; Marchart 2005.
42 Kaufmann 2015b, S. 30.
43 Siehe dazu etwa Warnke 1984; van Gülpen 2002.
44 Vgl. Kaufmann 2015b, S. 24.
45 Siehe dazu Roper 2012.
46 Hensing 1984, S. 11.
47 Medick/Schmidt 2004, S. 12.
48 Zu Entwicklung und Kontinuitäten der Lutherstilisierung etwa Brückner 1974, S. 262; Lehmann 1986.
49 Gumbrecht 1979, S. 45.
50 Raabe 1983, S. 35.
Zitierempfehlung: Hole Rößler: Martin Luther – eine Kultfigur und ihr Sockel. Zur Einführung. In: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017. Format: text/html. Online: http://www.luthermania.de/exhibits/show/hole-roessler-martin-luther-eine-kultfigur-und-ihr-sockel [Stand: Zugriffsdatum].