Instamatic History
Statt eines Grußworts
Peter Burschel
Martin Luther ist viel gereist, wenn auch, bis auf seine Romreise, nie wirklich weit. Heute ist der Reformator wieder unterwegs. Die mitteldeutsche Region aber ist ihm nicht mehr genug. Abstecher nach Augsburg, Worms oder Marburg kaum noch der Rede wert. Und selbst Rom noch zu nah. Luther ist jetzt Weltreisender. Weltreisender als 7,5 Zentimeter große Playmobilfigur mit Schreibfeder und Bibel (Abb. 1) – natürlich in der Übersetzung „Dr. Martin Luthers“, wie die aufgeschlagene erste Seite des Neuen Testaments ausweist. Es war diese inzwischen über 400 000-mal verkaufte Figur, die den Mannheimer Diakon Andreas Sommer im April 2015 dazu inspirierte, eine Facebook-Gruppe „Unterwegs mit Luther“ zu gründen, um auf diese Weise einen Beitrag zum bevorstehenden Lutherjubiläum zu leisten.
Auf der einschlägigen Seite könne jeder seine ganz persönlichen Reisestationen mit dem ambulanten Playmobil-Luther als Foto hinterlegen, so der Diakon. Dabei komme es nicht darauf an, dass der Reformator einstmals selbst an den abgelichteten Orten gewirkt habe. Entscheidend sei vielmehr der „reformatorische Geist“, den Luther dort entfache. Vor allem deshalb müsse die Figur dabei – und zu sehen – sein. Inzwischen umfasst die Gruppe über 350 Mitglieder, die über 500 Fotos eingestellt haben. Ob Loreley oder Bodensee, ob Ikea oder Bundestag, ob Jericho oder Masada in Israel, ob Südtirol oder Ghana: Luther war schon da.1
Fast möchte man sagen: „Hier gehe ich!“2 – und es verwundert nicht, dass der Reformator längst auch zum Geo-Caching einlädt.3 Doch wie auch immer man solche missionarischen Aneignungsszenarien taxiert,4 eines scheint auf der Hand zu liegen: Sie erlauben es, danach zu fragen, wie soziale Medien Geschichte als Raum kultureller Gedächtnisarbeit entdecken – und wie sie diesen Raum verändern. Kurz, es spricht einiges dafür, sie ernst zu nehmen. So ernst wie die These einer Berliner Master-Studentin des Faches „Public History“, die Inszenierungen der Gruppe „Unterwegs mit Luther“ als postmoderne visuelle Version von Luthers sogenannten Tischgesprächen zu verstehen.5
Das aber heißt auch: Die Facebook-Inszenierungen lassen erkennen, wie Geschichte und Web 2.0 zusammengeführt werden, indem Geschichte so weit fragmentiert, ja demontiert wird, dass sie zu einer Geschichte ohne Kontext wird, wie der amerikanische Medienwissenschaftler Alan Liu bemerkte; zu einer „Geschichte ohne Geschichte“ („history without history“), die Liu in Anlehnung an die 1963 eingeführte Point-and-shoot-Kamera von Kodak auch als „instamatic history“ bezeichnet. Gleichzeitig bestätigen diese Inszenierungen die These Lius, dass wir uns in einem „Zeitalter der Freunde“ („age of friends“) befinden, in dem versucht wird, Geschichte über „Freundschaft“ („friendship“) in „Geselligkeit“ („sociality“) aufgehen zu lassen und damit im Grunde zum Verschwinden zu bringen.6
Liu fragt, ob wir mit der Vergangenheit befreundet sein können. Und wir dürfen mit ihm antworten: Ja, das können wir! Allerdings nur, wenn wir akzeptieren, mit dieser Freundschaft die Vergangenheit zu verlieren, ganz so, wie die Facebook-Gruppe „Unterwegs mit Luther“ den „historischen Luther“ verloren hat. Was aber heißt das, den „historischen Luther“ zu verlieren? Und was würde es heißen, ihn „wiederfinden“ zu wollen? Was bleibt, wenn man versucht, das Realisierungsmedium eines vorherrschenden „Faszinationstyps“ zu dekonstruieren?7 Ja, würde jenseits mythologischer (und oft genug banaler) Sinnangebote überhaupt etwas bleiben?8 Wer solche und ähnliche Fragen stellt und gleichzeitig daran interessiert ist, die virtuellen Aneignungsmöglichkeiten des beginnenden 21. Jahrhunderts zu „historisieren“, kann sicher sein, in Ausstellung und Ausstellungskatalog Luthermania. Ansichten einer Kultfigur auf seine Kosten zu kommen. Ob sich am Ende der „historische Luther“ offenbart, darf durchaus bezweifelt werden. Eines aber ist sicher: Die zahllosen Sockel, auf denen der Reformator stand und steht, sind zur prüfenden Nahsicht freigegeben.
Die virtuelle Präsentation der Ausstellung verantworten Constanze Baum und Timo Steyer, unterstützt wurden sie von Henrike Fricke, Lukas Büsse und Lisa Romahn sowie von allen Abteilungen der Herzog August Bibliothek, die an der digitalen Aufbereitung der Werke beteiligt waren. Grundlage der Konzeption bilden die von Hole Rößler hauptverantwortlich kuratierte Ausstellung und der von ihm herausgegebene Katalog, dessen Beiträge als vertiefende Informationsebene in die virtuelle Ausstellung eingebettet wurden. Daneben ermöglicht die Überführung ins Internet die Präsentation der Werke über den zwangsläufig begrenzten Zeitraum der Wolfenbütteler Ausstellung hinaus und bietet Gelegenheit, den Werkkontexten der ausgewählten Exponate durch Verweise auf digitale Faksimiles, beteiligte Autoren, Künstler oder andere Werke gezielt nachzugehen. So erschließt der virtuelle Raum die zahlreichen Objekte aus den Beständen der Herzog August Bibliothek, die sich mit Luther verbinden, und ergänzt das Erleben des Originals vor Ort und den Blick des Besuchers in die Vitrine.
Mit dieser Präsentationsform eröffnet die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel im Rahmen des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel einen weiteren digitalen Zugang zu seinem kulturellen Erbe. Dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig und der Klassik Stiftung Weimar sowie zahlreichen Bildgebern sei für ihre Leihgaben und die Bereitschaft gedankt, diese auch adäquat im virtuellen Raum zeigen zu dürfen.
1 www.facebook.com/groups/1588403784774692/ (27. August 2016). Siehe dazu auch „Unterwegs mit Luther – Playmobil-Reformator reist um die Welt“: www.luther2017.de/de/neuigkeiten/unterwegs-mit-luther-playmobil-reformator-reist-um-die-welt/ (27. August 2016); „Playmobil-Luther auf Welttournee“: www.dw.com/de/playmobil-luther-auf-welttournee/a-19181080 (27. August 2016).
3 www.nordkirche.de/nachrichten/nachrichten/detail/die-digitale-schnitzeljagd-mit-dem-mini-luther.html (27. August 2016); www.luther2017.de/en/news/geocaching-mit-martin-luther/ (27. August 2016).
4 Killy 1983a; Dietrich 1996; Bollmann 2016.
5 Natalie Maier: Der fremde Freund. Unterwegs mit einer Playmobilfigur, S. 10f. Der (noch) unveröffentlichte, diese These entwickelnde Essay entstand im Rahmen des Forschungsseminars „Luther 2017. Oder: Wie stellt man einen Reformator aus“, das im Wintersemester 2015/2016 an der Humboldt-Universität zu Berlin unter Leitung des Verfassers stattfand.
7 „Faszinationstyp“ hier in Anlehnung an Gumbrecht 1979.
Zitierempfehlung: Peter Burschel: Instamatic History. Statt eines Grußwortes. In: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017. Format: text/html. Online: http://www.luthermania.de/exhibits/show/peter-burschel-instamatic-history [Stand: Zugriffsdatum].