Die entgegengesetzten Wege von lutherischer und römischer Kirche
In einer Weltgerichtsdarstellung nach Mt 25 werden die evangelische und katholische Konfession miteinander kontrastiert. Die nahezu quadratische Radierung ist in zwei Teile gegliedert, die durch eine breite Trennlinie und durch einen markanten Hell-Dunkel-Kontrast voneinander abgesetzt werden. Die unterschiedliche Breite der beiden Bildfelder setzt das Jesuswort von der engen Pforte und dem schmalen Weg zum Heil bzw. der weiten Pforte und dem breiten Weg zur Verdammnis (Mt 7,13f.) ins Bild um (Harms 1975, S. 105f.). Demgemäß befindet sich auf der linken Seite (und damit zur Rechten des am oberen Bildrand thronenden Weltenrichters Christus) die dicht gedrängte Schar der Erlösten, die unter Führung Luthers (so der Text in einer älteren Variante des Blattes) aus der „Pforten des Lebens“ auf den Gekreuzigten im Zentrum eines Strahlenkranzes zugeht. Links unten sind mit der Taufe und der personifizierten Fides, die mit ihrem attributiven Kruzifix dem in der Bibel lesenden Prediger den Weg zu Gott weist („soLa gratIa fIDeqVe saLVaMVr“ – „allein durch die Gnade und den Glauben werden wir erlöst“, mit Chronogramm auf das Jahr 1617), wesentliche Momente der lutherischen Konfession ins Bild gesetzt. Weiter oben beten links Herrscher und weitere Gläubige zu Christus, während sich gegenüber „Die Märtyrer vnnd Zeugen Jesu“ dem Zug der Erlösten anschließen. In der linken oberen Bildecke triumphiert der auferstandene Christus über den mit der päpstlichen Tiara bekrönten Antichrist, und ein Engel des Jüngsten Gerichts verkündet das göttliche Urteil (Apk 18,2; 18,20).
Auf der dunklen Bildseite führen mehrere teils gewundene Brücken und Stege in die rauchumwölkte Hölle („Fegfevr“, „Lethe“, „Styx“). Auf den Stegen laufen Flagellanten (links), Laien mit Ablassbriefen in den Händen und Mönche, die aus einem gotischen Gemäuer strömen (rechts), sowie Kardinäle und Bischöfe (oben) auf das Höllenfeuer zu. Mit der „Mess“, „Ablaßkramerey“, Wundergläubigkeit (Lahme werfen ihre Krücken von sich) und „Menschen satzung“, welche die Bibel mit Füßen tritt, werden katholische Glaubensinhalte illustriert, welche die Protestanten als ‚Missbräuche‘ verurteilten. Auf dem Boden zwischen den Stegen sind vorn verschiedene Hinrichtungsszenen zu sehen, welche die Praktiken der Inquisition vor Augen führen. Rechts im Mittelgrund treiben als Jesuit, Papst und Bischof verkleidete Wölfe die ihnen anvertrauten Schafe auf die Hölle zu. Oben schließt sich eine Darstellung „Babylon[s]“ an, das vom „Mare Tyrrhenum“ und „Mare Adriaticum“ umgeben ist und folglich als Rom identifiziert werden soll. Auf den sieben Bergen, die in der Apokalypse erwähnt werden (Apk 17,10) und auf dem Blatt an die sieben Hügel Roms erinnern sollen, erhebt sich als Verkörperung des Antichrist der siebenhäuptige Drache, der von der Hure Babylon (mit Petrischlüssel und Tiara) geritten wird. Die Drachenköpfe sind als „Superbia“ (Hochmut), „Blasphemia“ (Gotteslästerung), „Praesumtio“ (falsche Gnadenerwartung), „Tyrannys“, „Luxuria“ (Genusssucht), „Avaritia“ (Habgier) und „Securitas“ (falsche Sicherheit) gekennzeichnet.
Der zweisprachige Titel benennt das anlassstiftende Reformationsjubiläum explizit und als Chronogramm in Luthers Namen. Der Bezug der Darstellung auf „Matth, XXV“ wird angegeben, und die Überschriften „Leben“ bzw. „Todt“ über den beiden Bildteilen machen schon hier die heilsgeschichtliche Zuordnung der protestantischen und katholischen Seite klar. Der aus zweimal fünf lateinischen Distichen und zehn deutschen Knittelversen bestehende Text ist so angeordnet, dass die gepriesenen Überzeugungen des Luthertums (sola fide, solus Christus, sola scriptura) und die verurteilten Lehren des Papsttums („gute Werck/ Meß/ Ablaß/ Qual“) sich unter der zugehörigen Bildseite befinden.
Die strenge Antithetik des Blattes wird im Großen durch den Hell-Dunkel-Kontrast und durch den Gegensatz von geordneter Struktur auf der linken und verwirrender Unübersichtlichkeit auf der rechten Seite geprägt. Die Antithese reicht aber bis in die Details (Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 130; vgl. auch Coupe 1966/67, S. 207f.). Wenn links das Taufbecken aus dem Quell des Lebenswassers („Fons aquae vitae“) gefüllt wird, schwimmen an paralleler Stelle rechts Kröten und Schlangen in der „Lerna malorum“ (See der Übel). Taufe und Bibellektüre stehen Messdienst und Ablasshandel gegenüber. Die von der Inquisition hingerichteten Gläubigen treten auf der gegenüberliegenden Seite als Schar der Märtyrer auf. Während rechts die verängstigten Schafe von den klerikalen Wölfen verfolgt und gefressen werden, versammeln sie sich links friedlich hinter dem Agnus Dei. Und die beiden Gruppen, die den Gekreuzigten anbeten, haben ihr Pendant in den Königen und Ungläubigen, die vor dem Antichrist auf die Knie gefallen sind.
Der unbekannte Autor des Blattes hat seine Darstellung durch eine Vielzahl beigeschriebener Bibelzitate zu stützen versucht. Darüber hinaus bedient er sich zahlreicher ikonographischer Zitate aus der konfessionellen Polemik des 16. Jahrhunderts. Die Darstellung der Hure Babylon mit der Tiara geht auf einen Holzschnitt Lucas Cranachs d. Ä. (um 1472–1553) in der Septemberbibel von 1522 zurück und fand von hier den Weg in die Bildpublizistik. Auch die Leiden der protestantischen Märtyrer wurden immer wieder thematisiert; so auf einem nahezu zeitgleichen Einblattdruck, der die Martyrien der Protestanten in eine Linie mit den antiken Christen- und mittelalterlichen Ketzerverfolgungen stellt (Abb. 1).
Die geistlichen Hirten, die sich als Wölfe im Schafspelz (das Wort ‚Bischof‘ wurde dabei umgeformt in ‚Beiß-Schaf‘) entpuppen, gehörten gleichfalls zum beliebten Repertoire der konfessionellen Agitation (Abb. 2; zum Motiv vgl. Beyer 1994, S. 107–109). Während andere Darstellungen der Zwei-Wege-Bildlichkeit häufig noch Möglichkeiten vorsehen, die einmal getroffene Entscheidung für einen Lebensweg im guten oder auch schlechten Sinne zu revidieren, sieht das vorliegende Blatt keine Seitenwechsel vor, sondern propagiert am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges eine starre Unversöhnlichkeit der konfessionellen Gegensätze.
Michael Schilling
Literatur:
Beyer 1994; Coupe 1966/67; Harms 1975; Harms/Schilling/Wang 1980.