Durch und durch Luther

Ein neues Betbüchlein

Zum Heiligen kann man sich nicht selbst proklamieren, dazu wird man gemacht. Martin Luther ist eine historische Figur, an der sich der Prozess einer allmählichen Sakralisierung auf das Beste nachvollziehen lässt. Der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann hat die heroisierenden Tendenzen in theologisch-literarischen Inszenierungen der frühen Reformationszeit untersucht. Luther wird als Gesandter Gottes beschrieben, als prophetisches Instrument, das die in die Finsternis geführte Menschheit befreit (Kaufmann 2013). Auch die Politik, die Vater und Sohn Cranach mit ihren ikonischen Lutherbildern praktizierten, stilisierte den ehemaligen Augustinermönch zum Propheten (Pettegree 2015, S. 148–163; Koerner 2004). Der Reformationshistoriker Robert Scribner verfasste bereits 1986 einen wegweisenden Aufsatz, in dem er die zahlreichen Wunderberichte über die unversehrt aus Feuersbrünsten hervorgegangenen Luther-Porträts und ‑Bibelausgaben zum Anlass nahm, die konfessionelle Legendenbildung um Luther aufzuzeigen. Durch Gemälde und Druckgraphik wurde eine zugleich erinnernde und symbolische Bildtradition geschaffen. In den nachfolgenden Jahrhunderten schufen wiederkehrende Gedenktage unablässig Lutherbilder, durch die sich Gedenken und allegorische Botschaft fortsetzten. Erinnerungsmedaillen mit Luthers Konterfei gehörten vermutlich zu den populärsten und am weitesten verbreiteten Formen ikonographischer Heroisierungen (Scribner 1986a). Luther als Heiligen zu inszenieren war eine unablässige Praxis. Das hier präsentierte Exemplar des Newen Betbüchlin ist eine stark erweiterte Fassung von Luthers Gebetbuch, dem noch zwei kürzere pastoraltheologische Schriften beigebunden sind. Es ist ein eindrucksvolles Element in der performativen Praxis einer Heroisierung Luthers. Herausgegeben wurde es von dem Theologen Anton Otto (1505–1588) und 1565 in Eisleben gedruckt. Otto hatte in Wittenberg studiert und war mit Luther und anderen Reformatoren befreundet; zum Zeitpunkt der Abfassung der Kompilation war er Pfarrer in Nordhausen.

Der Einband zeigt den Reformator ganzfigurig mit Wappen, die Titelseite ziert ein Holzschnitt mit Luthers Brustbild in einem Medaillon. Einband, Titelseite und Inhalt präsentieren, erinnern und erschaffen Luther als einen „seligen“ Mann Gottes innerhalb der Darstellungskonventionen der Entstehungszeit.

Ab der zweiten Hälfte des 16. bis zum 18. Jahrhundert wurde das von dem jüngeren Cranach eingeführte Bildmotiv – Luthers Ganzkörperfigur mit Wittenberger Talar, die Bibel in der Hand haltend, wahlweise mit Wappen und Luther-Rose –, das zunächst für Kirchen, Rathäuser und Universitäten Verwendung fand, auch für Illustrationen von Luther-Drucken verwendet (Oehmig 2015; Scribner 1986a, S. 54f.; Benzing 1982). Auch Ganzkörperdarstellungen Luthers wurden zu einem beliebten Motiv für Einbände seiner Schriften. Der hier gezeigte, blindgeprägte Schweinsledereinband präsentiert ein solches mit aufgeschlagener Bibel, der Lutherrose rechts und dem Wappen des Kurfürstentums Sachsen mit zwei gekreuzten Schwertern links. Es wurde mit einem Plattenstempel in das ehemals weiße Schweinsleder gepresst. Umgeben ist es von schmückenden Rollenstempeln, die biblische Figuren abbilden. Die Rose, Luthers gewähltes Emblem aus seiner Familie, hatte der Reformator selbständig mit einer allegorischen Bedeutung versehen (siehe dazu den Beitrag von Klaus Conermann). Die geöffnete weiße Rose auf blauem Untergrund mit einem roten Herzen und einem schwarzen Kreuz in der Blütenmitte sollte die Rechtfertigung des Sünders aus dem Glauben symbolisieren und an den gekreuzigten Jesus erinnern. In Eisleben gedruckt, erhielt dieses Gebetbuch vermutlich in einer Wittenberger Werkstatt seinen Einband; darauf deutet jedenfalls dessen sogenannter Wittenberger Stil hin (Rabenau 1983). Einbände wie diese sind ein wichtiger Hinweis darauf, dass die Praktiken der Buchbindung – neben Gemälden, Druckgraphik, Druckschriften und Medaillen – stärker als bisher in die Betrachtung der ikonographischen Kanonbildung einer ‚Luther-Mania‘ aufgenommen werden sollten. Sie sind ein wesentliches Element einer heroisierenden Verdichtung.

Luther verfasste sein erstes Gebetbuch, das aus fünf Stücken bestehende Betbüchlin, im Spätsommer 1522, als er von der Wartburg zurückkam. Es enthält keine Gebetsformeln, sondern nach dem Vorwort (1) folgen die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser (2), eine auf das Gotteslob zielende Auslegung des Ave Maria (3), eine Gruppe von Psalmen mit neuen Überschriften (4) und ein Brief von Paulus an Titus als eine Art Ständelehre (5) (WA 10.II, S. 331–501). Luthers Betbüchlin stand mit dem Wittenberger Gesangbuch, der Bibelübersetzung und dem kleinen und großen Katechismus in engem Zusammenhang. Er schuf keine neuen Gebetsformeln, sondern verwendete biblische Texte, Paraphrasen aus seinem Katechismus und Psalmen. Das Büchlein war eine gebetspraktische Unterweisung und Einführung in den neuen lutherischen Glauben. Mit dem Bezug zum Ave Maria bestand durchaus eine Kontinuität zur spätmittelalterlichen Gebetbuchtradition, obwohl Luther diese im Vorwort explizit kritisiert. Das Betbüchlin war sowohl ein publizistischer als auch ein finanzieller Erfolg. Es sind 48 Ausgaben zu Luthers Lebzeiten und weitere elf bis zum Ende des 16. Jahrhunderts nachgewiesen. Nach Luthers Tod wurden erweiterte Fassungen immer wieder neu verlegt und mit Illustrationen versehen. Aus seinen Schriften sammelten die Herausgeber Gebete und publizierten diese in teilweise umfänglichen Ausgaben. Es erschienen Übersetzungen in lateinischer und niederdeutscher Sprache sowie in weiteren europäischen Sprachen (Beyer 2007).

Abb. 1
Abb. 1 Anton Otto (Hrsg.): Ein newe Betbüchlin, des seligen und tewren Man Gottes Doctoris Martini Lutheri, Eisleben: Gaubisch 1565 [1566], Titelblatt. HAB: A: 990.119 Theol. (1)

Das hier gezeigte Exemplar des Newen Betbüchlin trug nicht nur Luther auf dem Einband, sondern auch ein Luthermedaillon auf der Titelseite (Abb. 1). Das Buch ist vollständig durchdrungen von Luther. Der nicht paginierte Druck umfasst 370 Seiten mit 20 illustrierenden Holzschnitten und Texten von Luther: wie und wann man beten soll, das Vaterunser mit sieben Holzschnitten, die kommentierten Zehn Gebote mit neun Holzschnitten und das Glaubensbekenntnis mit drei Holzschnitten, wie man sich zum Sterben vorbereitet, dazu Trost- und Dankpsalmen aus dem Alten Testament, ein Dankgebet des Propheten Jesaja (Jes 12,1–5), eine Sammlung von Sprüchen aus der Bibel, Auszüge aus Luther-Schriften zum Thema Gerechtigkeit aus dem Glauben, Trostsprüche aus den Leiden Jesu, eine Auslegung des Katechismus, ein Gebet für die christliche Jugend, Luthers Abendgebet und Trostsprüche für das verängstigte Gewissen. In der Vorrede wird das Gebetbuch für Pfarrer sowie Männer, Frauen und Kinder empfohlen. Diese Erweiterung von Luthers kurzer Glaubenslehre zu einem Kompendium markiert und demonstriert eine Entwicklung des lutherischen Gebetbuches in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hin zu einem Handbuch von Gebeten für verschiedene Lebenslagen.

Die Heroisierungen Luthers waren immer eng verbunden mit dem Transfer konfessioneller Inhalte, die sich im Laufe der Frühen Neuzeit abhängig von Zuschnitt und Stoßrichtung verändern – nur der Heilige blieb der gleiche.

Ulrike Gleixner

Literatur:

Beyer 2007; Oehmig 2015; Rabenau 1983; Scribner 1986a.