Zwischen Souvenir und Reliquie: ein Luther-Autograph

Das aufgeklappte Allte Testament deutsch

„Seine manuscripta/ vnd andere schlechthin entworffen papierlin vnd pergamentlein werden von den Kunstnern vnd anderen admiratoribus fur Heiligthumb verwaret“. Diese Worte des Graphikers und Schriftstellers Matthias Quad von Kinckelbach (1557–1613) aus seiner Landesbeschreibung Teutscher Nation Herligkeitt (Quad 1609, S. 429) sind zwar auf Albrecht Dürer (1471–1528) gemünzt, lassen sich aber wohl ebenso auf Martin Luther übertragen. Ganz in diesem Sinne handelte jedenfalls Quads Zeitgenosse, der Ulmer Kaufmannssohn und Patrizier Hans Ulrich Krafft (1550–1621), ein weitgereister, vielseitig interessierter und wohlhabender Mann, der mit dem ulmischen Pflegamt in Geislingen a. d. Steige eine angesehene Lebensstellung gefunden hatte. Für dessen private Kunst- und Wunderkammer fand sein berühmter Freund, der Augsburger Sammler, allgegenwärtige Antiquar und Diplomat Philipp Hainhofer (1578–1647), der auch für Herzog August als Kunstagent tätig war, lobende Worte.

Abb. 1
Abb. 1 Albrecht Dürer: Bildnis Kurfürst Friedrichs des Weisen. Kupferstich, 1524, 193 × 127 mm. Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig: Inv. Nr. Dürer WB 3.169
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Er war es auch, der für die hier ausgestellte, seltene Erstausgabe von Luthers deutscher Übersetzung des Alten Testaments, die Krafft von 1585 bis zu seinem Tod als Familienbibel verwendete, den gediegenen Einband stiftete, der von bemerkenswertem handwerklichen und künstlerischen Niveau ist (Schauerte 2005). Der in einer offenbar zeitgenössischen Handschrift notierte Name des Reformators im Kolophon könnte dabei durchaus mit Luthers Praxis im Zusammenhang stehen, seine Schriften gelegentlich signiert zu verschenken (Kat. Wolfenbüttel 1983, S. 305 u. Kat. Nr. 198). Eine Kunstkammer ist also der kulturgeschichtliche Rahmen, in dem der fromme Protestant Krafft seine Bibel zu einer Art privatem ‚Reformationsmuseum‘ en miniature ausgestaltete. Dazu klebte er etwa mit Friedrich dem Weisen und Philipp Melanchthon zwei der berühmten Porträt-Kupferstiche Dürers ein, die – vermutlich zum Dürer-Jubiläum 1928 – herausgelöst wurden und sich seither im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig befinden (Abb. 1).

Doch als besondere Kostbarkeit sind die vier Autographen anzusehen, von denen jeweils zwei im Vorder- und Rückdeckel aufgebracht und von Kraffts handschriftlichen Angaben zu den Erwerbungsumständen begleitet wurden.

Während sich hinten Schriftproben Albrecht Dürers und Lukas Cranachs d. J. (1515–1586) finden (Abb. 2, am unteren Blattrand), prangen im Vorderdeckel ein Autograph von Philipp Melanchthon und – natürlich an erster Stelle – jenes Martin Luthers (Abb. 3), dessen Erwerb Krafft in weihevollen Worten schildert:

Abb. 2
Abb. 2 Martin Luther: Das Allte Testament deutsch, 2 Bde., Wittenberg: Lotter 1523/24, hinterer Innendeckel mit eingeklebten Autographen Albrecht Dürers (o.) und Lukas Cranachs d. J., Beischriften von Hans Ulrich Krafft. HAB: Bibel-S. 4° 197

Des Hocherleuchten, Erwirdigen, Thewren, | vnd Jn Gott Ruhendten Man Gottes | Marttini Lutheri Aigne Handschrifft | Jst mir Hans Vlrich Krafften, | Jm monatt Julÿ Anno 1588. | Durch den Erwirdigen, vnd | Hochgelertten, Herrn Jörgen | Müller, der haÿllig schrifft | Doctoren etc. von Wittenberg | Nach Vlm Jberschicktt | worden. | [Hier folgt das Autograph Luthers.] | Zu Lobwirdigen Ehren, | vnd Crist-Seeliger ge= | =dechttnus, Hiehero | verordnett, weil diß | buch sein Anfang geweßt, | Als er die Bibel. aus dem häbräischen, Jn das | Hochteusch [sic] vnuerfölschtt | verdolmeschtt ./.

Der Übersender, bekannter unter seinem latinisierten Namen Georg Mylius (1548–1607), seinerzeit Prediger und Professor in Wittenberg, scheint kein allzu großes Problem darin gesehen zu haben, für diesen Wunsch einem eigenhändigen Dokument des Reformators mit der Schere zu Leibe zu rücken. Da der hochformatige, kleine Schriftspiegel des Luther-Autographs, das auch rückwärtig beschriftet wurde, offenbar unbeschnitten ist, bestand der Schaden in diesem Falle darin, dass wohl eine Randglosse aus einem Buch oder Manuskript herausgetrennt und damit unwiederbringlich aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen wurde. Er lässt sich aufgrund der Kürze und geringen Aussagekraft des Texts wohl auch kaum wiederherstellen.

Mylius war aber selbst von der Verehrung Luthers und Melanchthons zutiefst durchdrungen, und wenn er in der Wittenberger Schlosskirche angesichts beider Gräber predigte, „so ybergehet mir Aug und Herz“ (Mylius 1992, S. 91).

Krafft und Mylius hätten den aus der katholischen Theologie und Frömmigkeitspraxis stammenden Begriff der Reliquie sicher entrüstet von sich gewiesen, zumal die Auflösung der riesigen Wittenberger Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen 1525 auf Drängen Martin Luthers nachgerade zu den Gründungserzählungen des Protestantismus zählt. Dennoch scheint er hier bis zu einem gewissen Grade sogar im doppelten Wortsinne zuzutreffen, denn „im weiteren Sinn sind R. alle Dinge, die die Heiligen od. Seligen während ihres Lebens benutzten“ (Kötting 1986, Sp. 1217). Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass die physische Berührung von Luthers Autograph durch Krafft diesem ein – natürlich nicht genau zu definierendes – Moment religiöser Erbauung vermittelte. Dennoch bleibt ein Charakteristikum dieser „Reliquie“ festzuhalten, das sie trotz ihrer quasi-liturgischen Verbindung mit einer Bibel von einer klassischen Berührungsreliquie wie etwa einem Gewandstück Christi oder eines Heiligen klar unterscheidet: Denn es handelt sich eben um eine Schriftprobe, die weniger auf eine Heiligung ihres Urhebers als vielmehr auf die besondere Charakteristik Luthers als Mann des göttlichen Wortes schlechthin abzielt. Dies betont ja nicht zuletzt Kraffts Beischrift auch ganz deutlich, indem sie die Anfänge des Reformators in Gestalt der vorliegenden Bibelübersetzung heraufbeschwört.

Abb. 3
Abb. 3 Martin Luther: Das Allte Testament deutsch, 2 Bde., Wittenberg: Lotter 1523/24, vorderer Innendeckel mit eingeklebten Autographen Martin Luthers (o.) und Philipp Melanchthons, Beischriften von Hans Ulrich Krafft. HAB: Bibel-S. 4° 197

Mutatis mutandis gilt dies auch für die drei anderen Schriftproben von Melanchthon, Dürer und Cranach. Während dies beim zweiten großen Reformator sowie bei dem Sohn des protestantischen Bildpropagandisten par excellence auch keiner weiteren Erläuterung bedarf, reklamiert Krafft durch den Erwerb von dessen Autograph vom rudolfinischen Hofmaler Bartholomäus Spranger (1546–1611) auch Albrecht Dürer, Schöpfer der eingeklebten Bildnisse Melanchthons und Kurfürst Friedrichs, mit Nachdruck für die Sache der Reformation.

Thomas Schauerte

Literatur:

Kat. Wolfenbüttel 1983Kötting 1986Mylius 1992Schauerte 2005.