Luther wird heilig
Im Dezember 1520 reiste der päpstliche Nuntius Hieronymus Aleander (1480–1542) für den ab Januar 1521 anberaumten und für Luther schicksalhaften Reichstag nach Worms. Dort angekommen, berichtet er kurz vor Weihnachten in einem Schreiben missbilligend über die Verehrer Luthers:
Und so groß ist die Verehrung dieser Schurken für Luther, dass einige […] allem Volk auf dem Markt zu sagen wagten, dass Luther ohne Sünde sei und nie geirrt habe, dass er deshalb hoch über St. Augustin zu stellen sei. So hat man ihn denn auch neuerdings mit dem Sinnbild des heiligen Geistes über dem Haupt und dem Kreuz, oder auf einem anderen Blatt mit der Strahlenkrone dargestellt: und das kaufen sie, küssen es und tragen es selbst in die kaiserliche Pfalz (Aleander 1886, S. 35).
Bereits drei Jahre nach seinem Thesenanschlag (1517) kursieren Heiligenbildnisse Luthers. Kaum hat der Reichstag begonnen, entfaltet sich ein virulenter Handel mit Porträts des Reformators. Am 8. Februar 1521 notiert Aleander: „In Augsburg verkaufte man ehedem das Bild Luthers mit dem Heiligenscheine. Hier [in Worms] wurde es ohne denselben feilgeboten und zwar unter so großem Andrang, dass im Nu alle Exemplare verkauft waren, ehe ich mir eines verschaffen konnte“ (Aleander 1886, S. 51).
Ob es sich bei dem Lutherporträt Hans Baldungs (1484?–1545) um eines der von Aleander inkriminierten Bildnisse handelt, wissen wir nicht. Bemerkenswert ist jedoch, dass aus dem Jahr 1521 bereits mehrere Adaptionen einer bekannten Lutherdarstellung von Lucas Cranach d. Ä. (um 1472–1553) im Umlauf sind. 1520 schuf Cranach, Hofmaler am kursächsischen Hof unter Friedrich dem Weisen in Wittenberg, einen vom reformatorischen Hof verbreiteten Kupferstich, der Luther als Augustinermönch zeigt (Abb. 1) (Kat. Nr. 30-32). Predigend oder lehrend befindet sich der Reformator mit geöffneter Bibel vor einer Wandnische. Bereits die Nische, aber auch die Bibel evozieren ein sakrales Moment, rekurrieren sie doch auf einen etablierten Typus der Heiligendarstellung. Dieses Porträt diente Hans Baldung Grien als Vorlage.
Unmittelbar nach Erscheinen des Cranach'schen Stichs schuf Baldung Grien 1521 für das Titelbild der Acta et res gestae D. Martini Lutheri in Comitijs Principu[m] Vuormaciae (Handlungen und Umstände, die Martin Luther auf dem Reichstag in Worms widerfuhren) seinen Holzschnitt, der das Lutherbildnis Cranachs zwar zum Vorbild nimmt, aber an entscheidenden Stellen modifiziert: Die Nische ist ersetzt durch eine Gloriole mit Geisttaube, die über dem Haupt Luthers schwebt; die Hand des Reformators verbindet sich direkt mit der Heiligen Schrift; die Beischrift ist ausgetauscht. Hatte Cranach noch anspruchsvoll getitelt: „AETHERNA IPSE SUAE MENTIS SIMULACHRA LUTHERUS EXPRIMIT AT VULTUS CERA LUCAE OCCIDUOS“ – „Die unvergänglichen Abbilder seines Geistes bringt Luther selbst hervor, seine sterblichen Züge jedoch das Wachs des Lucas“, beschränkt sich Baldung Grien auf das Porträt. In späteren Drucken, wie einer 1523 gedruckten Predigtsammlung, wurde es durch eine leicht verständliche Botschaft ergänzt: „Martinus Luther ein dyener Christi/ und ein wideruffrichter Christlicher leer“ (Abb. 2).
Es ist kein Zufall, sondern gezielte Bildpropaganda, diesen Holzschnitt als Entree des anonym verfassten Berichtes über Luthers Verdienste während des Reichstags zu Worms zu wählen. Luther hatte sich Kaiser Karl V. widersetzt, der ihn zum Widerruf seiner kirchenkritischen Äußerungen aufforderte – eine Weigerung, die Luther mit der Reichsacht bezahlte. Einmal mehr war Luther zur Ikone der reformatorischen Bewegung geworden. Sein Bildnis als Heiliger, dem Wormser Bericht vorangestellt, manifestiert seinen Ruf als Heiliger in Schrift und Bild.
Seinen Anhängern galt Luther als Erwählter Gottes, man feierte ihn als „wideruffrichter“ – Erneuerer – der christlichen Lehre. Schnell und weiträumig verbreiteten sich zahlreiche Varianten von Cranachs Luther als Augustinermönch. Ob nun als Kupferstich oder Holzschnitt, auf Flugblättern oder in Druckschriften: Sie inszenieren Luther als Heiligen. Der Auftritt des Reformators in Worms wurde von Zeitgenossen mit der Passion Christi in Verbindung gebracht, zum Beispiel in Hermann von dem Busches Schrift Ain schöner newer Passion (Augsburg 1521). Luther, der Mönch, war zum Märtyrer der Bewegung avanciert. Im Gegensatz zum Gottessohn wurde ihm zwar nicht das Leben genommen, jedoch wurden seine Bücher verbrannt. Konsequenterweise konnte ein Feuer-Ordal, so ist in Berichten von 1521 zu lesen, Bildnissen des neuen Heiligen nichts anhaben („aber die biltnus des Luthers mocht nit verprinnen“) – ein weiterer untrüglicher Beweis der Heiligkeit (Busche 1521, Bl. aiv r).
Bildnisse des nimbierten, vom Heiligen Geist inspirierten Luther bestimmen besonders die frühen Jahre der Reformation ab 1520. Noch ein weiterer Kupferstich Lucas Cranachs d. Ä. diente als Vorlage der fortschreitenden Sanktifizierung Luthers. 1521, ein Jahr nach seiner Dreiviertelansicht Luthers als tonsurierter Mönch, stach Cranach ein Profilbild des Reformators, das ihn ohne weitere Attribute als Augustinermönch mit Doktorhut zeigt und damit auf seine Gelehrsamkeit verweist (Abb. 3).
Signifikant unterscheidet sich dieses Bildnis von der Dreiviertelansicht von 1520. Scharf zeichnet sich vor dunklem Hintergrund Luthers prägnantes Profil ab und verweigert dem Betrachter jeglichen Blickkontakt. Cranach verwendet mit der Profilansicht eine etablierte Würdeformel von Herrscher- und Papstbildnissen, die Luther zum Glaubensheros werden lässt. Auf der Grundlage dieses Stichs wiederum schuf 1523 Daniel Hopfer (1470–1536) eine Eisenradierung (Abb. 4). In seiner Adaption tauschte er den kontrastierenden Bildhintergrund aus und ersetzte ihn durch einen Strahlenkranz. Luther war zur Lichtgestalt geworden.
Gia Toussaint