Lebensstationen Luthers

Reverendi Viri D. Martini Lutheri […] Vita […]

Das Blatt, das im Vorfeld der ersten Zentenarfeier der Reformation entstand, zitiert in Text und Bild autoritative Vorgaben des 16. Jahrhunderts, die der Memoria Luthers dienten.

Der Holzschnitt zeigt die leicht untersetzte und kräftige, etwas zur Fülligkeit neigende Gestalt des Reformators in seinem weiten Predigertalar. Der ernste, konzentrierte Blick, der feste Stand und die vor dem Körper zusammengeführten Arme, deren Konturen gemeinsam mit der Schulterlinie einen leicht abgeflachten geschlossenen Kreis ergeben, vermitteln den Eindruck einer entschlossenen, in sich ruhenden Persönlichkeit. Die Bildkomposition, welche die Hände Luthers und das von ihnen gehaltene Buch, wohl die Bibel, in den Schnittpunkt mehrerer Linien rückt, betont das göttliche Wort als Grundlage des lutherischen Glaubens (Sola-Scriptura-Prinzip).

Das Ganzfigurenporträt geht auf ein Gemälde zurück, das Lucas Cranach d. J. (1515–1586) anlässlich des Todes Luthers 1546 angefertigt (heute im Schloss Güstrow), später mehrfach wiederholt und im Medium des Holzschnitts vervielfältigt hat (Abb. 1). Der Bildtyp „gilt für die Zeit der lutherischen Orthodoxie als bevorzugte und volkstümlichste Wiedergabe des Reformators“ (Kastner 1982, S. 168) und findet sich in vielfältigen Verwendungszusammenhängen (z. B. in Kirchen und Rathäusern, als Buchillustration oder auf Bucheinbänden).

Abb. 1
Abb. 1 Warhafftige Contrafet des Ehrwirdigen Herren Doctor Mart. Luth., o.O. 1546. Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin: Portr. Slg./Slg. Luther/ A II 15,1
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Den Block des vorliegenden Holzschnitts benutzte der Ulmer Drucker Johann Meder († 1623) noch für einen zweiten Einblattdruck mit deutschem Text (Abb. 2), so dass er ein nach unterschiedlichen potentiellen Käufergruppen diversifiziertes Angebot auf den Markt brachte.

Der Holzstock wurde 1667 zur 150-Jahr-Feier des Thesenanschlags auf einem verlorenen Flugblatt erneut abgedruckt und gelangte dann in den Besitz des Augsburger Briefmalers Johann Philipp Steudner (1652–1732), der ihn seinerseits wohl 1717 für zwei Einblattdrucke verwendete (vgl. Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 116f.). Sowohl der Bildtyp als auch die Technik des Holzschnitts, die um 1600 von der des Kupferstichs und der Radierung abgelöst worden war, sind als Versuch zu werten, die Darstellung mit der Patina des 16. Jahrhunderts zu versehen und dadurch authentisch erscheinen zu lassen.

Der Titel kündigt eine Darstellung von Leben und Taten Luthers in 20 Eteostichen an und benennt Johannes Stolsius (Stoltz, ca. 1514–1556) als Autor. Dabei werden Luthers akademische Titel hervorgehoben, um seine theologische Autorität zu unterstreichen, aber wohl auch, um den gelehrten Leser anzusprechen. Die Anordnung des Titels mit den sich mittig verengenden Zeilen und dem sich verkleinernden Typendruck lenkt den Blick des Betrachters auf die zentrale Gestalt des Reformators.

Abb. 2
Abb. 2 Wahre vnd eygentliche Bildnus […] Martin Luthers […], Ulm: Meder 1616, Bl. 305. HAB: Cod. Guelf. 38.25 Aug. 2°

Stolsius verfasste die Eteostichen in seiner Funktion als Dekan der philosophischen Fakultät in Wittenberg 1546 zu Luthers Tod. Bei den Eteostichen (auch Chronostichen genannt) handelt es sich um Verse, bei denen jeder Buchstabe, der als römische Zahl gelesen werden kann, auch als Zahl gelesen werden muss. Die Summe der Zahlenwerte in jedem Verspaar ergibt dann das in der Überschrift genannte Jahr, in dem sich ein entscheidendes Ereignis im Leben Luthers abgespielt hat. Im Einzelnen werden so folgende Stationen aufgeführt: 1. Geburt, 2. Schulbesuch in Magdeburg, 3. Schulbesuch in Eisenach, 4. Studienantritt in Erfurt, 5. Magisterpromotion, 6. Eintritt ins Kloster, 7. Ankunft in Wittenberg, 8. Doktorpromotion und Romreise, 9. Thesenanschlag, 10. Bekenntnis vor Cajetan (1469–1534) in Augsburg, 11. Leipziger Disputation, 12. Verbrennung der päpstlichen Bannbulle, 13. Bekenntnis auf dem Wormser Reichstag, 14. Aufenthalt auf der Wartburg, 15. Rückkehr nach Wittenberg, 16. Eheschließung und Bauernkrieg, 17. Marburger Religionsgespräch, 18. Augsburger Konfession, 19. schwere Erkrankung in Schmalkalden, 20. Tod.

Die Chronostichen erschienen erstmals auf einem Einblattdruck, der als Illustration ein von Lucas Cranach d. J. geschnittenes Halbfigurenporträt Luthers aufweist (Hofmann-Randall 2003, Abb. D 17). Von hier fanden die Verse Eingang in die Icones sive Imagines Virorum Literis Illustrium (Straßburg 1587) des Nikolaus Reusner (1545–1602) (vgl. Kat. Nr. 42 und 43). Viermal begegnen sie auf Flugblättern, deren drei im Zusammenhang mit dem Reformationsjubiläum 1617 entstanden sind. Hinzu kommt ein Abdruck im Kontext einer Magdeburger Jubelpredigt. Offenbar traute man dem Text eines Zeitgenossen und Vertrauten Luthers ebenso wie dem Bildtypus aus der Werkstatt Cranachs eine auratische Nähe zum Reformator zu, so dass er sich für memorative und wegen seiner Artifizialität auch repräsentative Zwecke besonders gut eignete.

Michael Schilling

Literatur:

Harms/Schilling/Wang 1980; Kastner 1982.