Luther als Engel des Jüngsten Gerichts
Anlässlich der ersten Zentenarfeier des Thesenanschlags preist das Blatt Luther und seine Reformation als Erfüllung einer Prophezeiung Daniels (vgl. Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 131).
Der Kupferstich stellt den durch Luther verursachten drohenden Sturz des Papsttums dar. Der Papst sitzt in vollem Ornat auf einem Thron, dessen Seitenwange mit einer Harpyie verziert ist. Der Prunksessel, der auf einem leicht nach rechts geneigten, gestuften Podest steht, kippt nach hinten, so dass der Papst mit seinem rechten Bein hilflos in der Luft rudert und mit seiner linken Hand Halt suchend einen Rosenkranz umklammert. Die Rechte ist zum Abwehrgestus gegen den am Himmel schwebenden geflügelten Luther erhoben, für den auch die am Boden liegende Schere zum Stutzen der Flügel bestimmt ist. Den Sturz des Papstes verhindern zwei Jesuiten und drei Mönche, die mit drei Zweizinken, einer Säule und ihren Händen den Thron von hinten stützen.
Die Darstellung Luthers basiert auf drei Bibelstellen: Die Engelsgestalt gründet sich auf Apk 14,6 („Vnd ich sahe einen Engel fliegen mitten durch den Himmel/ der hatte ein ewig Euangelium zu verkündigen“). Die Posaune ist ein Bildzitat von Es 58,1; dort wird der Prophet aufgefordert, die Sünden des Volks Gottes durch Rufen und Posaunenschall öffentlich zu machen; den machtvollen Ton, den Luther seinem Instrument entlockt, deuten die der Posaune entströmenden Wolken an, die sich über der katholischen Gruppe zusammenballen. Die Kerze in Luthers rechter Hand entstammt ebenso wie das Zitat in der aufgeschlagenen Bibel („Suchet in der schrifft, den si zeugt von mir“) dem Johannesevangelium (Joh 5,35 u. 39); sie verweist dort auf Johannes den Täufer als Vorboten Christi und wird hier auf Luther übertragen, dessen Licht die dahinter aufscheinende göttliche Sonne der Gerechtigkeit (und des Jüngsten Gerichts) ankündigt. Unterhalb Luthers verkündet der zweite apokalyptische Engel den Sturz Babylons, das von den Protestanten mit Rom gleichgesetzt wurde (Apk 14,9). Im Hintergrund macht sich der Ablasskrämer Johann Tetzel (1465–1519) auf den Weg von Rom nach Deutschland, dessen evangelische Gemeinde durch die schlichte Kirche am linken Bildrand repräsentiert wird.
Der Titel des Blattes gibt die Darstellung als Wiedergabe einer „Weissagung deß heiligen Propheten Danielis“ aus und nimmt dabei Bezug auf das 12. Kapitel des Buches Daniel, in dem der „König gegen Mittage“ durch ein Geschrei „von Morgen vnd Mitternacht“ in Schrecken versetzt wird und in seinem „Pallast […] zwischen zweien Meeren“ seinem Ende entgegensieht (Dan 12,44f.). Diese Aussage hatte schon Luther in seiner Vorrede zum Buch Daniel auf den Sturz und Untergang des Papsttums bezogen.
Der Text ist ein Dramolett, in dem der Papst, Tetzel, Luther, die Jesuiten und abschließend der Engel und „Der Tichter“ zu Wort kommen. In dem einleitenden Dialog schickt der Papst Tetzel nach Deutschland, um durch den Ablasshandel Geld für den luxuriösen Lebensstil in Rom einzunehmen. Durch seinen Ausruf, der in der Manier eines Marktschreiers erfolgt, entlarvt Tetzel ungewollt die Verkehrtheit des Ablasses, wenn er sein Kreuz als ebenso wirksam wie das Kreuz Christi bezeichnet, weit mehr Seelen als Petrus erlöst haben will und behauptet, dass sein Ablass sogar eine Vergewaltigung Marias sühnen könne. Der zweifache Auftritt Luthers dient erst der Ablehnung des Ablasshandels und dann der ausdrücklichen Missachtung des päpstlichen Bannbriefs. Der Dialog von Papst und Jesuiten offenbart die Angst, durch die Reformation zum Untergang verurteilt zu sein („Mein Stul will sincken mit gewalt/ | So wackelt mir mein Kron mit macht“). Der Engel beteuert die Unzerstörbarkeit der reformatorischen Bewegung, bevor der als Epilogsprecher auftretende „Tichter“ in einem Dankgebet die hundertjährige heilsame Wirkung der Reformation preist.
Das Blatt, dessen erste Ausgabe in Freiberg/Sachsen gedruckt wurde, fügt sich mit seinen Anspielungen auf Dan 12 und Apk 14 in den Kontext der Zentenarfeier ein, deren Ablauf für das Kurfürstentum Sachsen in einer Instruction vnd Ordnung festgelegt worden war. Demnach sollten die beiden Bibelstellen zum Gegenstand der Predigten am 31. Oktober und 1. November 1617 gemacht werden (Kastner 1982, S. 320–324). Auch der Freiberger Superintendent Abraham Gensreff (1577–1637) hatte in seinen Lutherischen Jubel-Predigten (Freiberg 1618) über die beiden Bibelstellen gesprochen. Daher dürfte der Einblattdruck als popularisierende Ergänzung des Festprogramms gedient haben. Ob in Freiberg auch, wie etwa in Stettin, eine Jubel-Komödie aufgeführt worden ist, welcher der Text entnommen sein könnte, ist nicht bekannt.
Das Blatt bedient sich in Text und Bild verschiedener Motive der konfessionspolemischen Publizistik. Der Vers „So bald der Grosch im Kasten klingt/ | Von Mund die Seel in Himmel schwingt“ hat zuerst Hans Sachs (1494–1576) in seiner Wittembergisch Nachtigall (Nürnberg 1523) Tetzel in den Mund gelegt (Kat. Nr. 36). Die bildliche Darstellung des Ablasskrämers begegnet auf mehreren Leipziger Flugblättern, die 1617 zum Jubelfest erschienen waren. Die Gesamtkomposition mit Luther auf der einen Seite und dem Papst auf dem stürzenden, aber von seinen Anhängern gestützten Thron geht auf einen Holzschnitt Lucas Cranachs d. J. (1515–1586) zurück, der 1567 unter dem Titel LVTHERVS TRIVMPHANS publiziert und im 17. Jahrhundert mehrfach nachgestochen wurde (Abb. 1). Cranach hatte seinerseits das Motiv des zusammenbrechenden Papststuhls auf einem Holzschnitt Sebald Behams (1500–1550) vorgefunden (Meuche 1976, S. 26f.).