Luther, die Nachtigall

Die wittenbergische Nachtigall

Die Wittenbergisch Nachtigall markiert den Anfang des enormen Erfolgs von Hans Sachs (1494–1576) als Reformationsdichter der Stadt Nürnberg. Die Flugschrift lebt vom populären Gedankengut Martin Luthers und verleiht dem Reformator zugleich einen effektvollen Beinamen, den der Nachtigall von Wittenberg. Mit der Nachtigall unterstreicht Sachs einerseits Luthers musikalische und gesangliche Veranlagungen – Luther dichtete und komponierte selbst zahlreiche Kirchenlieder – und schöpft andererseits aus der symbolischen Tradition, wonach die Nachtigall als herausragende Sängerin und Vermittlerin von Weisheit überliefert ist. So tritt die Nachtigall im griechischen Mythos von Philomela als verfolgter, aber nicht fassbarer Vogel auf (vgl. Williams 1997, S. 16–33) und in frühchristlichen lateinischen Gedichten wird sie als Verkünderin des Frühlings präsentiert (Ross 1956, S. 59; Williams 1997, S. 36).

Nicht zuletzt trug der Text von Sachs zur Literarisierung Luthers bei, der hier erstmals und noch zu Lebzeiten zum Protagonisten einer Spruchdichtung wird. Sachs arbeitete damit der Inszenierung Luthers als Kultfigur, dessen Popularisierung und der ‚Marke Luther‘ als großem deutschen Reformator zu. Die Wittenbergisch Nachtigall weist wichtige reformatorische Kennzeichen auf, die dies stützen, wie zum Beispiel ihre Abfassung in Volkssprache und die verwendete Textsorte der gedruckten Flugschrift selbst. Bereits im Entstehungsjahr 1523 wurden sieben Ausgaben des Textes gedruckt (vgl. VD 16), die den Autor schlagartig berühmt machten. Nürnberg, Wirkungsstätte von Sachs, wandte sich bereits sehr früh der Reformation zu. Das Wormser Edikt von 1521 zwang die Stadt jedoch zu einem heiklen Balanceakt zwischen der Forderung nach Reformen und ihrem politischen Status als freie, auf die Gunst und den Schutz von Kaiser und Papst angewiesene Reichsstadt (Otten 1993, S. 5f.). Aus diesem Grund waren die Jahre vor 1525, als die Stadt offiziell zum Protestantismus übertrat, spannungsgeladen, und die Anfertigung und Verbreitung von lutherischen Schriften und lutherischem Gedankengut risikoreich. Dennoch avancierte Hans Sachs zum einflussreichsten Reformationsdichter der Stadt und war von der Zensur des Rates bis auf eine Ausnahme nicht betroffen.

Bemerkenswert ist der von einem unbekannten Künstler gefertigte Titelholzschnitt der Wittenbergisch Nachtigall, der durch seine gleichsam einfache wie ausdrucksstarke Bildsprache besticht. Das Bild lebt von der kompositorisch kontrastiv angelegten Darstellung, die auch andere Bilderfindungen der Reformation – wie die Darstellung von Gesetz und Gnade bzw. Altem und Neuem Testament – bestimmend prägt. Ein Baum, in dessen Zweigen eine Nachtigall sitzt, trennt im Bildhintergrund eine nächtliche Wildnis auf der einen Seite von einer lichten Weidelandschaft auf der anderen, auf der das Osterlamm mit Siegesfahne und Gloriole auf einem Hügel von Schafen verehrt wird. Sonne und Mond stehen schematisch personifiziert am Firmament. Die überdimensionierte Nachtigall ist der Sonne zugewandt, und weitere Schafe lauschen ihrem Gesang, während eine Gruppe anderer Tiere den Baum grimmig zu belagern scheint. Am Fuße des Baumstamms fletscht ein aufrecht sitzender Löwe die Zähne. Sachs’ Allegorie, die den großen Reiz und wohl auch die enorme Popularität des Textes ausmacht, erzählt von einer Schafherde, die, geblendet vom trügerischen Mondschein, Hirten und Weide verlässt, um dem Löwen in die Wildnis zu folgen. Dieser erweist sich jedoch als hinterlistig und fängt oder tötet sie. Wölfe und Schlangen unterstützen ihn dabei. Mit dem Gesang der Nachtigall jedoch erwachen die Schafe aus ihrer Trance. Der Löwe ist erzürnt und trotz der Hilfe seiner zahlreichen Verbündeten (waltesel, schwein, pöck, katz, schnecken, frösch und wiltgens) gelingt es ihm nicht, die Nachtigall zum Schweigen zu bringen. Sie verkündet weiterhin den nahenden Tagesanbruch und schließlich kehren viele der Schafe wieder „auß dyser wilde | Zuo irer weyd und hirten milde“ (Bl. [Aiv]r, V. 87f.) zurück.

Schnell wird klar: Luther ist die Nachtigall, der Löwe soll Papst Leo X. vorstellen. Auch weitere prominente Gegner Luthers werden von Sachs allegorisch verwandelt aufgegriffen: Das wilde schwein meint Johannes Eck, der bock Hieronymus Emser, die katz Thomas Murner, der waltesel Augustin von Alveldt, die schneck Johann Cochlaeus.

Ein direkter Übergang führt entsprechend von dem geschilderten Tierreich zu einer Tirade über die Missstände in der Kirche. In knappen Verweisen prangert Sachs die Falschheit altkirchlicher Praktiken an, allen voran den Ablasshandel und die monetäre Fixierung der katholischen Kirche, an welchen sich auch Martin Luthers Kritik entzündet hatte: „Auch gebens brieff für schuld und peyn | Da legt man in zuo gulden ein | Der schalckstrick sein so mancherley | Das heyst mir römisch schinterey“ (Bl. Bij v, V. 255–258). Die Kritik des Dichters gipfelt in dem Vorwurf: „Mit solcher fabel und abweyß | Hant sy vns gefürt auff das eyß | Das wir das wort gotes verliessen | Unnd nur theten was sy vns hiessen“ (Bl. iij v, V. 321–324).

Wie am Rand der Ausgabe vermerkt wird, gibt Sachs konträr zu dieser Negativdarstellung altkirchlicher Glaubenslehre im Anschluss „Ein kurtzer anzeig der leere doctor Martini Luthers“ (Bl. [Biv]r, Marginalie, V. 340). Der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen kann nicht durch gute Taten und die strikte Einhaltung menschlicher Regeln Abhilfe geleistet werden, da der Mensch bereits durch den Opfertod Christi „bey gott […] gnat“ (Bl. [Biv]v, V. 371) erworben hat. Die Taten der Barmherzigkeit müssen also allein aus der Nächstenliebe resultieren, da sie nicht zur Seligkeit führen, die dem Menschen bereits durch seinen Glauben an Gott zuteilwird. Gute Werke entstehen demnach nicht aus dem Zwang, sondern der Liebe zu Gott. Diese Lehre Luthers wendet sich gezielt gegen die Vermittlungsfunktion der Kirche und ihr Ablasswesen, insbesondere da Luther auch schreibe, es „sey keyn sundt | Dann was uns hab verboten got“ (Bl. D v, V. 564f.). Auf diese Vorwürfe hin ist Leo X., der Babst, erwacht, der Luther – durch den drohenden Verlust von Macht und Einnahmen beunruhigt – verfolgen ließ. Doch dieser „blyb […] bestendig in sein sachen | Unnd gar keyn wort nit wyder ryfft“ (Bl. Cij r, V. 478f.). Mit einem Appell an die Leser, trotz der Bedrohung durch altkirchliche Gegner standhaft zu bleiben, schließt das Gedicht.

Die Prosavorrede zielt besonders auf die Antithetik der „menschenleer etlicher Sophisten“ (Bl. Aij r, Z. 8) und dem von Martin Luther wieder geschenkten Wort Gottes ab, „welches vor durch menschen leer verdunckelt war“ (Bl. Aij r, Z. 46f.). Hier wird ausführlich dargestellt, dass der wahre Glaube an Gott lange Zeit durch kirchliche Gesetze, Bestimmungen und Gebote verdeckt und dabei die eigentlich für den Glauben zentrale Nächstenliebe und Barmherzigkeit außer Acht gelassen wurde. Erst Luther habe das Evangelium wieder von diesen Fesseln befreit und rein verkündet und er, Sachs, wolle es nun in diesem Sinne an seine Mitmenschen weitergeben.

Sachs demonstriert in der Wittenbergisch Nachtigall seinen unverwechselbaren Stil, der sich in der Vermischung von christlichen Glaubensregeln und antirömischer Papstkritik entfaltet und die didaktische Absicht zu erkennen gibt, dem „gemeinen man“ (Bl. Aij v, Z. 71) den Zugang zum theologischen Diskurs der Zeit zu ermöglichen. Dies scheint auch in anderen Werken seiner frühen Reformationsdichtung immer wieder auf. Aufgrund der starken Polemik, von der der Text durchtränkt ist, kann man davon ausgehen, dass er nicht auf die Bekehrung katholischer Anhänger zum Protestantismus ausgerichtet war, sondern vielmehr darauf abzielte, die bereits auf Luthers Seite stehenden Gläubigen in ihrer Überzeugung zu stärken und ihnen einen Zugang zum theologischen Disput zu ermöglichen. Sachs verfolgte in der Wittenbergisch Nachtigall vornehmlich die Strategie, Luthers Lehre mit Hilfe einer eingängigen Allegorie zu popularisieren, doch die außergewöhnlich starke Rezeption des Textes trug in der Folge erheblich zum frühprotestantischen Personenkult um den Reformator bei.

Charlotte Hartmann

Literatur:

Hartmann 2015; Otten 1993; Ross 1956; Sachs 1984; Williams 1997.