Luther, die Nachtigall
Ein Baum, in dessen Zweigen eine Nachtigall sitzt, trennt im Bildhintergrund eine nächtliche Wildnis auf der einen Seite von einer lichten Weidelandschaft auf der anderen, wo das Osterlamm mit Siegesfahne und Gloriole auf einem Hügel von Schafen verehrt wird. Die etwas überdimensionierte Nachtigall ist der Sonne zugewandt, und weitere Schafe lauschen ihrem Gesang, während eine Gruppe anderer Tiere den Baum grimmig zu belagern scheint. Am Fuße des Baumstamms fletscht ein aufrecht sitzender Löwe die Zähne. Schnell wird klar: Martin Luther ist die Nachtigall, der Löwe soll Papst Leo X. darstellen. Auch weitere prominente Gegner Luthers werden vom Dichter, Hans Sachs (1494–1576), allegorisch verwandelt aufgegriffen: Das wilde schwein meint Johannes Eck, der bock Hieronymus Emser, die katz Thomas Murner, der waltesel Augustin von Alveldt, die schneck Johann Cochlaeus. Die Wittenbergisch Nachtigall markiert den Anfang des enormen Erfolgs von Hans Sachs als Reformationsdichter der Stadt Nürnberg. Die Flugschrift weist wichtige reformatorische Kennzeichen auf, wie zum Beispiel ihre Abfassung in der Volkssprache. Der Text von Sachs trug maßgeblich zur Literarisierung Luthers bei, der hier erstmals und noch zu Lebzeiten zum Protagonisten einer Spruchdichtung wird. Sachs arbeitete damit der Inszenierung Luthers als Kultfigur, dessen Popularisierung und der ‚Marke Luther‘ als großem deutschen Reformator zu. Die Flugschrift lebt vom populären Gedankengut Martin Luthers und verleiht dem Reformator zugleich einen effektvollen Beinamen. Sachs verfolgte in der Wittenbergisch Nachtigall vornehmlich die Strategie, Luthers Lehre mit Hilfe einer eingängigen Allegorie zu popularisieren, doch die außergewöhnlich starke Rezeption des Textes trug in der Folge erheblich zum frühprotestantischen Personenkult um den Reformator bei.