Luther auf der Bühne
Nur wenige Jahre nach der Reformation entstanden an den neugegründeten protestantischen Gymnasien die ersten Schuldramen (siehe Beitrag Kolb). Die neue, von Luther selbst ausdrücklich empfohlene Gattung hatte eine doppelte didaktische Zielrichtung: Während die neulateinischen Dramen sich vornehmlich an die Schüler richteten und ihr Gedächtnis trainieren, das kolloquiale Latein einüben und ein sicheres Auftreten befördern sollten, adressierten die volkssprachlichen Dramen immer auch eine breitere Stadtöffentlichkeit. Autoren von Schuldramen waren in der Regel Lehrer und Prediger. Sie transformierten die antiken und mittelalterlichen Dramenformen in ein neues, wirkungsvolles Medium der lutherischen Katechese. Mit ihren visuellen und auditiven Reizen boten Schuldramen ein ganzheitliches ästhetisches Erlebnis, das anderen katechetischen Vermittlungsformen wie Predigt, Flugblatt oder Medaille überlegen war. Der besondere Schauwert von Schultheateraufführungen wurde gezielt eingesetzt, um die lutherische Lehre unter das Volk zu bringen (Meier 2012).
In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts dominierten im Schuldrama alt- und neutestamentliche Stoffe. Erst relativ spät erkannte man die dramatische und katechetische Wirkung von Luthers eigener Biographie. Obwohl zahlreiche Vorläufer existieren, wird als erstes Lutherdrama in der Forschung gemeinhin die Fastnachtskomödie Phasma von Nicodemus Frischlin (1547–1590) genannt (Frischlin 1592). Phasma wurde 1580 aufgeführt, aber erst zwölf Jahre später, nach dem Tod des Autors gedruckt (Exponat). Oberflächlich betrachtet handelt es sich um eine Widerlegung abweichender Häresien aus lutherischer Sicht, doch erweist sich das Stück bei näherer Betrachtung als doppelbödig (Elschenbroich 1976; Nahrendorf 2016). Bereits die Tatsache, dass Luther hier in einer nicht enden wollenden Reihe von Streitgesprächen als rechthaberischer Disputant auftritt, spricht für ein ambivalentes Verhältnis Frischlins zum Luther-Kult der Orthodoxie. Doch mehr noch: Frischlin konterkarierte die scheinbar rechtgläubigen Aussagen seiner Protagonisten auf ingeniöse Weise durch ein Netz antiker Zitate. Wenn der Württemberger Reformator Johannes Brenz (1499–1570) in der 3. Szene des 3. Aktes das lutherische Dogma der Allgegenwart Christi verteidigt, so tut er dies mit Worten aus Plautus’ burleskem Lustspiel Amphitruo, in dem sich der heidnische Gott Jupiter in den griechischen Feldherrn Amphitruo verwandelt, um mit dessen Frau Alcmene sein Liebesverlangen zu stillen. Allein die Kenner der antiken Vorlage konnten diese Travestie der lutherischen Lehre wahrnehmen. Kein Wunder also, dass der Autor zu Lebzeiten einen Druck des Stückes zu verhindern wusste – er befürchtete wohl Repressionen seitens der Württemberger Theologen. Dessen ungeachtet avancierte das Drama um 1600 zu einem vielgelesenen Standardwerk, das bis 1671 zahlreiche Auflagen sowie Übersetzungen ins Deutsche und Italienische erlebte. Zeitgenössische Nutzungsspuren wie Marginalien und Unterstreichungen in sieben Exemplaren der Erstausgabe von Phasma im Bestand der Herzog August Bibliothek zeugen von einer intensiven Rezeption. Hatte man das schillernd Subversive des Stückes schlicht nicht erkannt?
Mit seiner Demonstration späthumanistischer Gelehrsamkeit ist Frischlins Phasma freilich ein atypisches Exemplar der Gattung Lutherdrama; es blieb eine Ausnahme. Ein widerspruchsfreies und konformes Lutherbild zeigt dagegen Andreas Hartmanns Drama Erster Theil/ des Curriculi Vitae Lutheri (Erstdruck 1601) (Abb. 1). Der Titel macht deutlich, dass der Autor eine mehrteilige Dramatisierung von Luthers Biographie plante, von der jedoch nur dieser erste Teil erschienen ist. Laut Vorrede hat sich Hartmann insbesondere an Johannes Mathesius’ (1504–1565) einflussreicher Luther-Biographie in Predigtform orientiert (Mathesius 1566).
Hartmann dramatisiert den Lebenslauf Luthers vom Eintritt ins Kloster bis zur Entführung auf die Wartburg. Das eigentliche Zentrum des Stückes ist Luthers Auftritt auf dem Reichstag zu Worms von 1521 im 4. und 5. Akt. Luthers Antwort auf den vom Kaiser geforderten Widerruf gibt Hartmann in korrekter, nur leicht abgewandelter Form wieder. Die legendären letzten Worte Luthers lauten bei Hartmann:
„Ich kan nicht anders/ ich stehe allhier/ | Gott helff mir Amen/ Amen schier“ (Hartmann 1601, Bl. L r).
Angesichts wachsender Entfremdung und Indifferenz im eigenen Lager will Hartmann seine Glaubensgenossen in ihrem Luthertum bestärken, indem er ihnen den Mut, die Standhaftigkeit und das Gottvertrauen des Reformators als Vorbild vor Augen führt (Metz 2013, S. 673–688).
Dieser Intention einer basalen Information über Leben und Lehre Martin Luthers folgten auch die späteren Lutherdramen, die sich in vielen Details an Hartmann anlehnen. Ein Höhepunkt in der Produktion dieser Dramen wurde zum Reformationsjubiläum von 1617 erreicht. Es galt, ein durch Missernten, Epidemien und die wachsende Konkurrenz von Katholiken und Calvinisten bedrängtes Luthertum in seiner Identität zu stärken. Den Auftakt zu einer ganzen Gruppe von Dramen bildete der bereits 1613 gedruckte Eißlebische Christliche Ritter (Rinckart 1613) von Martin Rinckart (1585–1649) (Abb. 2). Rinckart hatte einen Zyklus von insgesamt sieben Lutherdramen geplant, von denen jedoch nur drei zum Druck gelangten. Mit Knittelversen, niederdeutschen Elementen und drastischer Komik richteten sich Rinckarts Dramen vor allem an die einfache Bevölkerung. Im populären Gewand sollten sie in breitesten Schichten eine „identitätsgenerierende Einprägearbeit“ leisten (Flügel 2012, S. 224).
Dagegen adressierte der Rektor des Frankfurter Gymnasiums, Heinrich Hirtzwig (1587–1635), eher ein gelehrtes, universitär vorgebildetes Publikum. Sein neulateinisches Lutherus Drama (Hirtzwig 1617) wurde 1617 in Frankfurt und Wittenberg gedruckt und dort auf dem Platz vor der Schlosskirche von Studenten und Dozenten der Universität zur Aufführung gebracht (Abb. 3). Hirtzwigs Drama ist darin singulär, dass es die vollständigste Schilderung von Luthers Biographie enthält – von seiner Berufung nach Wittenberg bis zu seinem Tod (Metz 2013, S. 650–657). Der Dramenschluss zeigt Karl V. nach seinem Sieg im Schmalkaldischen Krieg an Luthers Grab in Wittenberg. Der Kaiser hindert seine Soldaten an der Schändung des Grabes, worauf sie ausrufen:
Lutherus triumphat vivus, triumphat mortuus.
Erwähnung verdient schließlich noch die Tetzelocramia (1617) von Heinrich Kielmann (1581–1649), die dem Titel gemäß auf die Ablasskontroverse fokussiert ist (Kielmann 1617). Für die Stettiner Aufführung der Tetzelocramia wurde zusätzlich ein Flugblatt gedruckt, das die konfessionspolemischen Inhalte des Dramas auf nachhaltige Weise im Bewusstsein der Zuschauer verankern sollte (Kastner 1982, S. 158, 316–318). Die bleibende Leistung der Lutherdramen liegt wohl darin, dass sie die Biographie und das geistige Erbe Martin Luthers einer neuen Generation eingeprägt haben. Die polarisierende Wirkung ihrer aggressiv-antipäpstlichen Polemik unmittelbar vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges sollte jedoch nicht unterschätzt werden.
Carsten Nahrendorf
Literatur:
Elschenbroich 1976; Flügel 2012; Kastner 1982; Meier 2012; Metz 2013.