Luther, das Monster
Martin Luther als vielköpfiges Monstrum – die Umbruchszeit der Reformation war wahrlich ein besonders hartumkämpfter historischer Schauplatz. Die Gegner schonten sich nicht, ganz im Gegenteil, sie kämpften mit allen Mitteln. Multipliziert wurde die Polemik durch den massenhaften Einsatz der Druckerpresse – und die Drucker sanierten sich mit der Reformationspublizistik. In den Streitschriften herrschte ein Prinzip der Zuspitzung und gegenseitigen Übersteigerung, der manischen Suche nach der angreifbaren Aussage des anderen und der persönlichen Diffamierung, wie wir es heute von den Shit-Storms des Internets kennen.
Mit Johannes Cochlaeus (1479–1552) war Luther ein hartnäckiger Gegner erwachsen. Cochlaeus, der eigentlich Johannes Dobeneck hieß und sich als Humanist nach dem Geburtsort Wendelstein (von lateinisch „cochlea“, die Schnecke) nannte, war ein hochgebildeter Mann, der sich zwei Jahre in den Bibliotheken Roms mit historischen Studien beschäftigt hatte, Hebräisch beherrschte und in Nürnberg im Pirckheimer-Kreis arbeitete (Bäumer 1980, S. 14–20). War er anfangs Luther positiv gesonnen, löste dessen „Adelsschrift“ – An den christlichen Adel deutscher Nation (1520) – und die Aussage vom Priestertum aller Christen, die die Hierarchie der römischen Kirche angriff, einen wahren Schock bei Cochlaeus aus. Ende 1520 begann er sich an Luthers Theologie abzuarbeiten. Als Luther auf dem Reichstag in Worms weilte, trafen sich die beiden Kontrahenten am 25. April 1521 zu einer Unterredung, die in einem Zerwürfnis endete (Bäumer 1980, S. 22ff.; Samuel-Scheyder 2009, S. 132–135). Die nun folgenden Streitschriften nahmen an Schärfe zu. In Anspielung auf den gewählten Humanistennamen nannte Luther Cochlaeus eine „arme Schnecke“ (Samuel-Scheyder 2009, S. 153). Einen Höhepunkt ihrer Kontroverse bildeten Cochlaeus’ Reaktionen auf Luthers Schriften gegen den Bauernkrieg und dessen Hochzeit am 27. Juni 1525. Darin warf er Luther vor, die Bauern zuerst aufgestachelt zu haben, um sie dann ans Messer der Fürsten zu liefern. Frivol und ohne Mitleid habe der Mönch Luther inmitten des Schlachtens sein Gelübde gebrochen und geheiratet. Nur eine Überwindung des Luthertums könne die Zwietracht in Deutschland beenden (Bäumer 1980, S. 28–31; Samuel-Scheyder 2009, S. 177–180).
Anfang 1529, nachdem er im Vorjahr zum Kaplan nach Dresden an den Hof des antilutherischen Herzogs Georg von Sachsen berufen worden war, veröffentlichte Cochlaeus die Sieben Köpffe Martini Luthers. Der Holzschnitt von Hans Brosamer (ca. 1500–1552) auf dem Titelblatt zeigt einen mächtigen Körper in gegürtetem Wams – die Hände vor dem Bauch ein aufgeschlagenes Buch haltend –, auf dem sieben unterproportional kleine Köpfe sitzen. Keiner von ihnen hat eine physiognomische Ähnlichkeit mit Luther. Beischriften erläutern den Sinnbezug. Wir sehen einen „Doctor“ mit Doktorhut, in Anspielung auf den Doktor der Theologie der Universität Wittenberg, dann einen „Martinus“ mit Mönchskapuze als eine Erinnerung an den Augustinereremiten Luther, aber mit Vollbart, was ihm das Äußere eines alten Bischofs verleiht; einen „Lutther“ mit türkischer Kopfbedeckung und langem Schnurrbart, nicht nur als Personifizierung des Unglaubens, sondern auch als Reminiszenz an Luthers Ablehnung eines Türkenkrieges. Der „Ecclesiastes“ mit Priesterbarett ist der Geistliche, der predigt, „was der pöfel gern hört“. Als „Schwirmer“ ist er barhäuptig mit struppigem Haar, umschwirrt von Bienen oder Hornissen – ein Zeichen für die wirren, nicht fundierten, wechselhaften und zugleich erschreckenden Gedanken und Einfälle, galten Schwärmer doch als solche, die die innerlich vernommene Stimme Gottes über Tradition und Schrift stellten und sich fälschlich als Propheten ausgaben. Der nächste Kopf ist der des „Visitierers“ in Amtstracht eines Kirchenführers, womit Cochlaeus das vermeintlich angemaßte Recht der Kirchenadministration kritisierte. Schließlich bleibt noch der letzte Kopf, mit wildem Haar und Streitkeule, der Barrabas zugeordnet ist, dem Verbrecher, der an Christus’ Stelle von Pilatus freigelassen wurde – ein wilder Mann und Aufwiegler, der, wie Luther, „mit der keuln dran will“ und die Bauern zum Aufstand aufpeitscht (Bäumer 1980, S. 32f.; Michel 2013, S. 126; Warnke 1984, S. 51 f.).
Ikonographisch ist der siebenköpfige Luther einerseits eine Reaktion auf die Abbildungen Lucas Cranachs d. Ä. (um 1472–1553) im Septembertestament von 1522, einer Ausgabe des Neuen Testaments (Martin 1983, S. 19–114; Michel 2013, S. 124 ff.; Scribner 1994, S. 148–189). Für die Offenbarung des Johannes hatte Cranach 21 Illustrationen geschaffen, die unter anderem das siebenköpfige Tier der Apokalypse mit päpstlicher Tiara zeigten. Im hier ausgewählten Bildbeispiel trägt die babylonische Hure (Offb 17,1– 8) die Tiara, während sie die Bestie reitet (Abb. 1).
Luther, der dem Text der Apokalypse eigentlich skeptisch gegenüberstand, da er in ihm eine Christozentrierung vermisste, ließ die Illustrationen einfließen, da sie halfen, seine päpstliche Antichrist-Konzeption zu popularisieren. Mit Brosamers Holzschnitt fällt diese Idee auf Luther zurück. Zugleich wird deutlich, dass Luther für seine Gegner eine solch zentrale Stellung eingenommen hatte, dass eine fokussierte Polemik allein auf den Reformator zielen konnte. In den sieben Köpfen ist eine Parodie der Rollen zu sehen, die die prolutherische Propagandagraphik dem Reformator beimaß. Cranach hatte mit seinen Lutherbildern entscheidende Marken geschaffen: Luther als asketischer Mönch im Halbprofil, Luther als Mönch mit Doktorhut im herrschertypischen Profil und mit heroischer Physiognomik, und der bärtige Luther im Wartburgexil als Junker Jörg, das heißt als ikonographisch nobilitierter, weltlicher Ritter (Warnke 1984, S. 45–51; Scribner 1994, 14–36; Kaufmann 2013, S. 99–113). Schließlich schuf Hans Holbein d. J. (1498–1542) um 1519 den martialischen „Hercules Germanicus“ in Gestalt eines Mönches, der den Kampf gegen seine scholastischen und römischen Feinde mit der Keule austrägt (siehe den Beitrag von Robert Kolb, Abb. 1). Brosamer nimmt diese vielgestaltigen Rollenbilder auf und parodiert sie: den Mönch, den Gelehrten, den Heros, den Propheten, den Kirchenerneuerer, den Prediger, den wilden, kriegerischen Mann mit wuscheligem Haar und Keule, das vor dem Bauch in den Händen gehaltene Buch – all diese Motive finden sich in der protestantischen Lutherikonographie.
Der Holzschnitt Brosamers ist eng auf den Inhalt des Buches abgestimmt. Cochlaeus präsentiert Luther als einen sich selbst widersprechenden, wankelmütigen Aufwiegler. Zu verschiedenen, kontrovers diskutierten theologischen Themenbereichen der Sakramenten- und Messlehre versammelt er unterschiedliche Aussagen Luthers aus dessen Werken, die marginal ausgewiesen sind. Die Sentenzen sind jeweils einem der unterschiedlichen „Köpfe“ zugewiesen, so dass eine Kakophonie aus Luthersätzen entsteht. Ziel ist es, „anzuzeigen/ wie vnbestendig vnd widerwertig der Münch [Luther] in seiner lere ist“; Einigkeit erreiche dieser Mann nicht einmal mit sich selbst.
Noch im Juni desselben Jahres publizierte Cochlaeus eine zweite gegen Luther gerichtete Schrift, die sich seiner Haltung zum Türkenkrieg annahm (Abb. 2). Dieses Thema war im Abendland seit der Eroberung von Konstantinopel 1453 virulent. 1521 besetzten die Heere Sultan Süleymans Belgrad, 1526 vernichteten sie in der Schlacht von Mohács ein großes ungarisches Heer. Die Südostflanke des Reiches lag offen. Die Osmanen rückten in Ungarn ein, auf dem Reichstag von Speyer im April 1529 waren Gegenmaßnahmen das Thema. Im Herbst 1529 sollte es dennoch soweit sein, ein riesiges osmanisches Heer lagerte vor Wien. Dieses unwiderstehliche Vorrücken beförderte nicht nur eine alltägliche Angst, sondern sie verband sich auch mit apokalyptischen Endzeitvorstellungen.
Luther stand den Aufrufen zu einem Zug gegen die Türken lange sehr reserviert gegenüber. Bereits in seiner Erklärung der fünften Ablassthese von 1518 meinte er, dass die Mächtigen in der Kirche von einem Krieg gegen die Türken träumten, um sich einer Geißel Gottes zu entledigen, doch gegen die Türken zu kämpfen meint, sich Gott zu widersetzen, der unsere Sünden durch jene betrachtet. Die päpstliche Bannbulle vom 15. Juni 1520 verdammte diesen Satz. Luther sagte nun sogar, dass Gott in Rom als Strafe für die Sünden weitaus wildere und habgierigere Türken eingesetzt habe, als es die wahren Türken sein könnten, und kam zu dem Schluss:
Qui habet aures audiendi, audiat et a bello Turchico absteat, donec Papae nomen sub caelo valet. – Wer Ohren zum Hören hat, höre und stehe von einem Türkenkrieg ab, solange der Name des Papstes unter dem Himmel besteht.
Der wahre Antichrist ist für Luther nicht der Türke, sondern er sitzt in Rom. Eine Verschiebung dieser Haltung zeigte seine Schrift Vom Kriege widder die Türcken, die er scheinbar unter dem Eindruck der jüngsten Ereignisse im April 1529 veröffentlichte. Theologisch rückt er von den alten Aussagen zwar nicht ab, doch dürfte ein demütiger Christ unter der Führung eines christlichen Kaisers zum Schutz der Untertanen gegen die Türken ziehen. Eschatologisch werden aber Papst und Türke als Antichrist parallelisiert (Kaufmann 2008).
Cochlaeus’ Traktat erschien im Juni desselben Jahres als eine direkte Reaktion auf Luther. Aufgebaut als ein Dialog zwischen Luther, Palinodus (was Widerruf bedeutet) und einem Orator König Ferdinands, verkörpern die beiden ersten Dialogpartner die sich widersprechenden Meinungen Luthers. Verschiedene Kapitel sollen diese widersprüchlichen und unbeständigen Aussagen zum Türkenkrieg, die Übereinstimmungen von Luthers Lehre mit dem Koran, seine Blasphemien gegen Maria und das heilige Kreuz sowie seine Gabe, Verschwörungen hervorzurufen, erweisen. Cochlaeus paraphrasiert aus Luthers Werken und weist sie in Marginalien nach. Schließlich sei zu demonstrieren, „was der Wurm des schlechten Gewissens Luther sage“ – „Quid vermis conscientiae dicat Lutero“. Damit insinuiert Cochlaeus die Verdammtheit Luthers. Angehängt sind die 15 wesentlichen Widersprüche („Contradictiones“). Unter den ersten befindet sich der inkriminierte Satz aus der Bannbulle.
Der Holzschnitt auf dem Titelblatt zeigt eine große Nähe zum siebenköpfigen Luther. Eine zweiköpfige Figur sitzt auf einem massigen Körper in gegürtetem Wams. Beide Illustrationen ähneln sich in der Art der Ausführung der Gesichter, der Textur der Bekleidung bis hin zum Gürtel, der mangelhaften Proportionierung und im unbeholfenen Halsansatz. Es gibt aber ebenso viele Unterschiede – bis hin zur Ausführung des Besatzes am Gürtel. Die Arme und der Ansatz der Hände sind sehr unorganisch ausgearbeitet. Die beiden Köpfe orientieren sich an denen des „Visitirers“ und des „Barrabas“, sind aber keineswegs identisch. Der rechte Kopf schaut im Halbprofil aus dem Bild nach rechts heraus, trägt Vollbart und eine wilde Frisur. Er ist dem herkulischen Modell zuzuordnen. Die ihm zugeordnete Hand hält eine Schriftrolle. Über dem Kopf ist der Schriftzug „Lvthervs“ zu lesen, knapp darüber befindet sich eine Streitkeule. Die Kopfbedeckung des linken Kopfes ähnelt der des „Visitirers“. Er schaut im Halbprofil aus dem Bild nach links hinaus und hält die linke Hand an den Mund. Die zugehörige Beischrift lautet „Palinodvs“ („Widerrufer“). Der Holzschnitt illustriert die Grundidee des Textes: Was der herkulisch wilde, aufwieglerische Luther sagt, hat der sich als geistlicher Kirchenführer gerierende, der sich erschrocken die Hand vor den Mund hält, nicht so gemeint.
Unter seinen Tischgenossen meinte Luther, er hätte sich niemals auf den Streit mit dem „Rotzlöffel“ Cochlaeus einlassen sollen (Samuel-Scheyder 2009, S. 154). In der Öffentlichkeit hielt er sich daran. Luther, die alte „Haderkatze“, wie Cochlaeus ihn in Hassliebe nannte, antwortete ihm nicht mehr.
Harald Bollbuck
Literatur:
Bäumer 1980; Kaufmann 2008; Kaufmann 2013; Martin 1983; Michel 2013; Samuel-Scheyder 2009; Scribner 1994; Warnke 1984.