Luther, der Antisemit

Von den Juden und ihren Lügen

Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen, die unlängst – erstmals seit dem 16. Jahrhundert – in einer vollständigen Einzelausgabe erschienen ist, kann heute als eine der berühmt-berüchtigtsten, gleichwohl weithin unstudierten Texte des Reformators gelten (WA 53, S. 417–552; Luther 2016a). Ihre Prominenz verdankt sie primär einer im späten 19. Jahrhundert einsetzenden Rezeptionsgeschichte, die ihren Höhepunkt in der rassistischen Publizistik des ‚Dritten Reiches‘ erreichte. Seither ist die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem antisemitischen Erbe der Lutherschen Theologie nicht abgerissen; in der Gegenwart beschäftigt sie zahlreiche lutherische Kirchen und Synoden weltweit. Die aktuelle Dämonisierung des Judenfeindes Luther stellt die spiegelbildliche Inversion der die Wertung seiner Person seit dem 16. Jahrhundert begleitenden Monumentalisierung und Heroisierung dar.

In Bezug auf den historischen Kontext des 1543 in zwei Wittenberger Ausgaben bei Hans Lufft erschienenen, mit 144 Blatt sehr umfangreichen Traktates (Benzing 1989–1994, Nr. 3424f.; VD 16 L 7153f.), der im folgenden Jahr auch in einer lateinischen Übersetzung des Justus Jonas (1493–1555) herauskam (Benzing 1989–1994, Nr. 3426; VD 16 L 7156), kann als gesichert gelten, dass Luther – entgegen seiner eigenen Darstellung – nicht durch einen äußeren Anlass zu seiner Abfassung veranlasst wurde, sondern einem eigenem Antrieb folgte. Es ging ihm darum, den judenpolitischen Kurs, den er im Jahre 1523 durch seine Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens von Christen und Juden und in der Hoffnung auf nennenswerte Bekehrungen zum evangelischen Christentum eingeleitet hatte, definitiv und vernehmbar zu beenden. Insofern trägt seine Schrift Von den Juden und ihren Lügen testimoniale Züge; Luther wollte seinen Zeitgenossen einen ‚unverstellten‘ und ‚schonungslosen‘ Blick auf die seines Erachtens verstockten und von Gott verworfenen Juden eröffnen und zugleich einer christlichen Lesart des Alten Testaments, insbesondere einiger christologisch gedeuteter Verheißungen, eine Bahn brechen. Mit der letztgenannten Absicht stand Luther auch in einer offenen Opposition gegenüber humanistisch geprägten reformatorischen Hebraisten wie dem Basler Sebastian Münster (1488–1552), die einer historischen Deutung des Alten Testaments zuneigten und gegenüber seiner christologischen Lesart zurückhaltend waren.

Mittels der christologischen Interpretation von Stellen wie Gen 49,10, 2 Sam 23,2f., Jer 33,17–26, Hag 2,6–9 und Dan 9,27 trat Luther einer seines Erachtens ‚falschen‘, auf eine weltliche Herrschaft abzielenden jüdischen Messiaserwartung entgegen. In dieser Hinsicht stand er in der breiten Tradition christlicher Adversus Iudaeos-Literatur, die die Juden primär auf der Basis des Alten Testaments von ihrem ‚Irrglauben‘ abzuwenden beabsichtigte. Luther verband sein theologisch-exegetisches Anliegen mit einigen ‚judenpolitischen‘ Forderungen, in denen er die Bedingungen eines Verbleibs von Juden im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zu definieren versuchte. Allerdings betonte er nachdrücklich, dass er eine Austreibung der Juden wie in Frankreich, England oder Spanien für die angemessenste Lösung hielt. Sollten Juden gegen seinen ausdrücklichen Rat auch weiterhin durch geldgierige weltliche Obrigkeiten, die ihnen befristete Schutzbriefe verkauften, in evangelischen Territorien geduldet werden, sollte dies nur in einem sklavenähnlichen Stand möglich sein. Die jüdischen Kulträume (Synagogen) sollten Luthers Empfehlungen zufolge verbrannt, auch die jüdische Literatur unter Einschluss des hebräischen Alten Testaments vernichtet, Zwangsarbeit eingeführt, der Wucher verboten werden etc. Auch wenn manche der Forderungen des judenpolitischen Maßnahmenkatalogs aus der Tradition bekannt waren, so konnte ihre bei Luther begegnende Kombination vor ihm nicht belegt werden. Auch die Dramatik seines judenpolitischen Kurswechsels von einer weithin uneingeschränkten, freie Arbeits- und Erwerbsrechte einschließenden Judenduldung hin zur Austreibung oder Unterjochung der ‚fleischgewordenen Teufel‘, die Christus schmähten und den Christen nach dem Leben trachteten, ist in der zeitgenössischen Literatur ohne Analogie.

Die Rezeptionsgeschichte von Luthers später Judenschrift verlief uneinheitlich. In der Zeit der sogenannten ‚lutherischen Orthodoxie‘ orientierten sich die Theologen weithin, aber nicht ausschließlich, an ihr; weltliche Obrigkeiten auch lutherischer Territorialstaaten perpetuierten hingegen die traditionelle, befristete Duldungspolitik. Erst im Zeichen des Pietismus setzte eine grundsätzliche Umorientierung ein: Um der Bekehrung der Juden willen forderten viele Pietisten – zum Teil auch im Anschluss an Luthers ‚Judenschrift‘ von 1523 –, dass Juden mit Toleranz zu begegnen sei. Seit dem späten 17. Jahrhunderts stieß Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen weithin auf Ablehnung.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts begann sich dies allmählich zu ändern; vereinzelt wurde Widerstand gegen die Judenemanzipation nun auch mit Zitaten aus Luthers Spätschrift begründet. Seit den 1880er Jahren entdeckten dann völkische Milieus und rassistische Antisemiten den Wittenberger Reformator für sich; vielfach warfen diese der evangelischen Kirche nun vor, sie habe den ‚wahren‘, nämlich den Antisemiten Luther, unterdrückt. Die Rezeption einschlägiger Äußerungen Luthers beschränkte sich allerdings in der Regel auf einzelne judenfeindliche Zitate, die in Form von ‚grauer Literatur‘ als Flugblätter und ‑schriften massenhaft vertrieben wurden. Diese ‚antisemitischen Lutherflorilegien‘ hatten bis in die Zeit des ‚Dritten Reiches‘ Hochkonjunktur; auch die Deutschen Christen, die einflussreichste Gruppierung der Nationalsozialisten in der evangelischen Kirche, feierten den Antisemiten Luther. Dass Luthers fatale, von irrationalen Ängsten und protorassistischen Ressentiments bestimmte Urteile über die Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert dazu beitrugen, antisemitische Ideologie auch in protestantischen Milieus hoffähig zu machen, dürfte nicht zu bestreiten sein. Mit Von den Juden und ihren Lügen wollte Luther als entschiedener Judenfeind im Gedächtnis bleiben. Dies ist ihm gelungen.

Thomas Kaufmann

Literatur:

Brosseder 1972; Kaufmann 2013a; Kaufmann 2015; Kaufmann 2015a; Oelke u. a. 2015; Osten-Sacken 2002; Wallmann 1987.