Luther als fahrender Trunkenbold und Vielfraß

Martin Luther

Das Blatt verspottet die protestantischen Geistlichen, die im Zuge der Rekatholisierung aus Böhmen und Mähren vertrieben wurden, im Bild des dem Alkohol und der Völlerei ergebenen Reformators.

Luther und seine Frau Katharina von Bora (1499–1552) ziehen, von einem geschorenen Pudel begleitet, mit griesgrämigem Blick vor dem Auge des Betrachters vorbei. Der Reformator im Predigerhabit stützt seinen birnenförmig vorgewölbten Bauch auf eine Schubkarre, die er vor sich herschiebt. Aus ihr gucken die Köpfe von drei weiteren Reformatoren hervor, die mit ihren karikaturhaft verzerrten Physiognomien als Philipp Melanchthon (1497–1560), Johannes Bugenhagen (1485–1558) und Johannes Calvin (1509–1564) zu identifizieren sind. Sie werden durch die ebenfalls in der Schubkarre steckenden Bücher und das über den Rand hängende Schreibwerkzeug als „Worths dienner“ gekennzeichnet. In seiner Linken hält Luther ein großes Nuppenglas (vgl. Kat. Nr. 7), das ihn als übermäßigen Trinker charakterisieren und wohl auch an das Wetttrinken mit Johannes Agricola (ca. 1499–1566) aus dem sogenannten Katechismusglas erinnern soll, das in der katholischen Polemik gegen das Reformationsfest 1617 als Zeichen für Luthers angeblich lasterhaften Lebenswandel angeführt wurde. Auf dem Rücken trägt der Reformator einen Kasten, aus dem oben und aus seitlichen Öffnungen protestantische Prediger herausschauen, deren differenzierte, wenn auch leicht überzeichnete Gesichtszüge für einen zeitgenössischen Betrachter vermutlich eine Identifizierung der Figuren erlaubt haben. Die schmächtige Gestalt Katharina von Boras, deren Gewand an ihre Zeit als Nonne erinnert, ist als Kontrast zu ihrem massigen Ehemann inszeniert. Sie trägt ein Kind auf dem Arm und eine Bütte mit aufgeschnalltem Folianten auf dem Rücken.

Der gravierte Text aus zweimal acht Knittelversen ist den beiden Hauptfiguren in den Mund gelegt. Luther klagt, dass er sich unfreiwillig auf Wanderschaft begeben müsse und dass er schwer an den Predigern seiner Lehre und mehr noch an seinem Körpergewicht zu tragen habe; doch gebe ihm sein „grosses glass“ Halt und Stärkung. „CATHARINA“ wendet sich an ihren Mann, rät ihm zur Nutzung der Schiebkarre und ist bereit, ihm die Bibel hinterherzutragen. Weil ihr Mund trocken und ihre Füße schwach seien, bittet sie um einen Schluck „Von deiner Sterck“, wobei der Reim „guets Werck“ auf die Rechtfertigungslehre Luthers anspielt, welche die Notwendigkeit guter Werke zum Heilserwerb bestreitet.

Auf einem in Ulm erhaltenen Exemplar des Blattes hat ein Zeitgenosse eine aufschlussreiche handschriftliche Notiz hinterlassen:

Anno 1628. am Tag Martinj, Jst dergleichen küpfferstückh oder Gemäldt, zu Wien, dem Kayser offerirt, vnd zugleich verkaufft worden, da ein solches kauffen gewesen, daß zeitlich Exemplaria gemanglet. Jst den Euangelischen Predigern Zum Gespödt (weiln sie auß dem Landt gemüßt) gemacht worden, zumassen, Lutherus, wie oben, mit einem Rückgkorb, die Euangelische Vertribne Prediger auß dem Landt trägt, vnd im Schiebkarren Philippum Melanchthonem, Justum Jonam vnd Carolstatium mit außführt. Der Jnuentor vnd Sculptor soll ein Nürnberger Apostata sein, vnd bey R 800 damith zuweg gepracht haben (zitiert nach Schilling 1990, S. 50).

Die Angaben erlauben zum einen eine genauere historische Einordnung des Blattes: Es bezieht sich auf die Ausweisung der protestantischen Prediger aus Böhmen, die 1623 zunächst nur tschechischsprachige, ab 1624 auch deutsche Geistliche betraf und 1627 durch die Verneuerte Landesordnung bestätigt und verschärft worden war (Gindely 1894, S. 194–218). Zum andern belegt die Notiz, dass Flugblätter nicht nur den gemeinen Mann, sondern auch die Spitze des Reichs erreichen konnten, wenn der Kaiser in mutmaßlich demonstrativer Absicht einen antilutherischen Einblattdruck erwarb. Die Beischrift unterstreicht drittens, dass die Herstellung und der Vertrieb der Flugblätter neben konfessionell-propagandistischen wesentlich auch kommerzielle Interessen verfolgte; der Verkaufserfolg des Blattes, den der Schreiber durch die vermutlich übertriebene Summe von 800 Reichstalern als Erlös angibt, wird durch eine Vielzahl an Nachstichen der Darstellung bestätigt. Und schließlich wird als Verkaufsdatum wohl nicht zufällig der Martinstag erwähnt, der als Markttag die Absatzchancen für den Kolporteur erhöhte und zugleich durch den Bezug auf Luthers Vornamen dem Kauf des Blattes für Katholiken einen zusätzlichen Reiz verschaffte (Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 168). Die Angabe Wiens als Ort des Verkaufs passt gut zu der bairischen Färbung des Textes (Diphthongierung: „Muess“, „Füess“; Affrikata: „Khain“, „Stärckh“, „khan“; Synkopierung: „gricht“, „Bschwären“; Lexik: „bass“, „Scheyb Truchen“, „Speer“).

Ausweisung oder Flucht wurden in der Bildsatire des Dreißigjährigen Krieges wiederholt thematisiert, etwa im Motiv der Wallfahrt, welche die 1619 vertriebenen böhmischen Jesuiten zu den ‚Heiligen‘ Raspinus und Ponus (d. h. ins Amsterdamer Zuchthaus) oder der calvinistische Pfalzgraf nach der Niederlage am Weißen Berg ins niederländische Exil unternommen hätten. Das vorliegende Blatt zeigt Luther allerdings nicht in der Rolle eines katholischen Pilgers, sondern kriminalisiert ihn als Landstreicher und Vaganten. Ob das Traggestell auf dem Rücken, das zunächst nur als übliches Attribut der Fahrenden gelten muss, mit seiner auffälligen Form auch an einen Narrenkäfig erinnern soll, sei dahingestellt. Auf jeden Fall aber greift die Schubkarre als Stütze des Bauchs auf ein Motiv der Moralsatire zurück, das erstmals auf einem Holzschnitt von Hans Weiditz (um 1500–1536) begegnet und einen dickleibigen Trinker als Verkörperung des Lasters der Gula (Völlerei) zeigt. Zeitlich näher steht ein Blatt des Augsburger Briefmalers Lorenz Schultes (nachweisbar 1608–1628), das ein Mitglied der „Bachi Bruderschafft“ in derselben Positur wie Luther und mit den Attributen von Wurst, Brezel und Kutterolf als Beispiel der „vollen Gesellen/ Die täglich sauffen/ fressen wöllen“, vorführt (Abb. 1; vgl. Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 75 mit weiteren Belegen).

Abb. 1
Abb. 1 Des Bachi Bruderschafft, Augsburg: Schultes [um 1620]. HAB: 39.7 Aug. 2°, Bl. 547

Michael Schilling

Literatur:

Gindely 1894; Harms/Schilling/Wang 1980; Schilling 1990.