Luther, der Trinker

Sogenanntes Trinkglas Luthers

Durch vielerlei Quellen kolportiert und im Volksmund verbreitet ist das Bild von Luther als geselligem Tischgenossen mit einem Hang zu gutem Essen und Trinken. Die antilutherische Legendenbildung schreckt auf Flugblättern und Schmähschriften nicht davor zurück, Luther als Säufer oder dickwanstigen Kerl in Mönchskutte bloßzustellen (Kat. Nr. 26). Dabei waren es insbesondere die mit Luther in Verbindung gebrachten Becher, die den Spott Andersgläubiger auf sich zogen (vgl. Laube 2011, S. 211). So verunglimpft ein Flugblatt mit dem Titel D.M. Luthers Jubel-Glaß von 1618 denselben als genusssüchtigen Trinker (vgl. Beitrag Laube, Abb. 12) (Harms/Schilling/Wang 1980, Nr. 119). Das Blatt zeigt mittig ein hochaufragendes zylindrisches Trinkglas, das hinsichtlich seines Fassungsvermögens dem Objekt in der Wolfenbütteler Sammlung nahekommt. Die dort gegen Luther vorgebrachte Polemik von Luther als Säufer geht aber erstaunlicherweise auf eine in den gesammelten Tischreden Luthers geschilderte Episode und damit auf eine reformatorische Traditionslinie zurück. So überliefert Johannes Aurifaber (1519–1568) „eine wünderliche Geschicht“ aus dem Jahr 1540, der zufolge Luther bei Tisch als Provokation und Glaubensbeweis einen geladenen Magister der Universität zur Trinkprobe herausfordert: Ein Weinglas mit drei Reifen – das meint drei dünne Glasfäden, die umlaufend Markierungen eines hohen Glases geben –, das Luther zuvor ausgetrunken und wieder hat füllen lassen, wird dem Magister mit den Worten übergeben: „Magister E./ lieber/ ich gebe euch dis Glas mit Wein/ bis an den ersten reiff/ die Zehengebot/ an den andern/ den Glauben/ an den dritten/ das Vater vnser/ des Catechismi“. Der Angesprochene schafft es jedoch nicht, über den ersten Reif hinaus zu trinken, wozu Luther bemerkt haben soll: „Ich wußte es vorhin wol das M. E. die Zehen Gebot sauffen köndte/ aber den Glauben/ Vater vnser/ vnd den Catechismum würde er wol zu frieden lassen“ (Aurifaber 1566, S. 624).

Die Anekdote führt Trinkfestigkeit und Zechgelage mit Glaubensfragen zusammen und verquickt solchermaßen die gelehrte Disputation mit der bisweilen derben Alltagskultur des 16. Jahrhunderts. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich Gläser und Becher in Bezug auf eine spätere Luther-Verehrung großer Beliebtheit erfreuten, wobei manche sogar, wie das sogenannte Nesenische Lutherglas (Grünes Gewölbe Dresden), von späteren Besitzern zu regelrechten Reliquiaren umgearbeitet bzw. ergänzt wurden. Eine 1879 gedruckte Zusammenstellung zählt mehr als fünfzehn Trinkgefäße in Kirchenschätzen und Museen auf (Küchenmeister 1879) (siehe Beitrag Laube, Abb. 10–12).

Bei dem Objekt aus der Kulturgeschichtlichen Sammlung der Herzog August Bibliothek handelt es sich um ein sogenanntes Stangenglas mit 40 Spitznuppen, auch Noppen oder Batzen genannt, die hier statt in einer Linie in versetzter Reihung aufgebracht sind, wie dies sonst eher für kleinere Krautstrunke oder Römer der Fall ist. Die senkrecht abstehenden Nasen der Glastropfen sind zumeist gut erhalten. Beim Material handelt es sich um sogenanntes Waldglas, das in Waldhütten diesseits der Alpen seit dem späten Mittelalter produziert wurde. Die grüne Färbung ist hierfür – auch in Abgrenzung zu venezianischen Gläsern – typisch.

Das Glas ist aufgrund mehrerer Risse im Material, wovon der größte spiralförmig bis zur Mitte der Wandung mit einem deutlich sichtbaren Band und Kittmasse verklebt ist, sehr empfindlich (Beier/Freund/Kühler 2008, S. 3). Dessen ungeachtet handelt es sich um ein imposantes Beispiel für ein großes Trinkgefäß, das wohl aus dem 16. Jahrhundert stammt. Vergleichbare Stangengläser sind seit dem späten 15. Jahrhundert in adligen oder wohlhabenden Kreisen gebräuchlich und beliebt, während das einfache Volk vorwiegend aus Holzbechern trank. Die Nuppen, wiewohl selbst empfindlich, dienten neben ihrem dekorativen Zweck dazu, dass das teure Glas beim Gebrauch nicht aus der Hand glitt. Der obere Rand des Trinkglases, der sich etwas weitet, ist nuppenlos und durch einen einfachen Glasfaden abgesetzt. Der mit floralen Ornamenten umlaufend verzierte und mit reichlich bräunlicher Kittmasse montierte Fuß ist als spätere Zutat anzusehen (Beier/Freund/Kühler 2008, S. 3). Eine im April 2016 erfolgte Untersuchung des Hohlglases mittels Röntgenfluoreszenzverfahren förderte zutage, dass der Standfuß im Kern aus Silber besteht, die Sichtseite jedoch feuervergoldet ist (Mai 2016, o. P. [Lutherglas]). Das maßgefertigte Etui zur Aufbewahrung hat sich ebenfalls erhalten (Abb. 1). Es handelt sich dabei um einen mit Leder bezogenen Holzkasten, dessen Innenflächen zum Schutz der Nuppen mit Stoff ausgeschlagen sind (Beier/Freund/Kühler 2008, S. 2) und zugleich die besondere Wertschätzung bezeugt, die dem Trinkglas offenbar zuteil wurde.

Abb. 1
Abb. 1 Sogenanntes Trinkglas Luthers in zugehörigem Etui. HAB: KGS 1

Charles-Louis de Montesquieu (1689–1755) berichtet in seinen Reiseerinnerungen Mitte des 18. Jahrhunderts, dass man ihm in Wolfenbüttel einen Becher („gobelet“) gezeigt habe, der mit Sicherheit Martin Luther gehörte, und er fügt hinzu, dass dieser anderthalb Spannen hoch sei und die Hälfte seines Umfangs nicht mit einer Hand umfasst werden konnte (Montesquieu 2003, S. 406).

Das Stangenglas wurde zusammen mit anderen Luther-Raritäten spätestens seit dem 18. Jahrhundert in einem grünen Schrank aufbewahrt und Besuchern der Wolfenbütteler Bibliothek gezeigt. Zahlreiche Reiseführer aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Lotz’ Kunst-Topographie Deutschlands (1862) oder Voges’ Wolfenbüttel. Ein Führer für Einheimische und Fremde (1898) erwähnen den Schrank mit den darin enthaltenen Luther-Raritäten: darunter stets das Trinkglas, ohne dass dies jedoch genauer beschrieben oder besonders gewürdigt würde.

Wann das Trinkglas in die Sammlung gekommen ist, ist durch einen Schenkungsbrief belegt, der sich ebenfalls erhalten hat (Cod. Guelf. 49 Noviss.; vgl. Kat. Wolfenbüttel 1979, S. 356f., Kat. Nr. 733). Demnach wurde das Glas am 28. Januar 1680 von seinem letzten Besitzer, dem Sondershausener Pastor David Nikolaus Reinhartt (1628–1682), Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel (1627–1704) überlassen, als dieser sich danach erkundigte. Reinhartt übersandte das Glas im Auftrag seines Landesherrn Graf Christian Wilhelm von Schwarzburg-Sondershausen (1647–1721) als politische Gabe nach Wolfenbüttel. Für den frommen Herzog, der sich auch um die Sammlung von Luther- und Reformationsschriften verdient machte (Kat. Nr. 37), war das Glas sicherlich ein besonders attraktiver Gegenstand, der zudem geeignet war, den Aufbau der Wolfenbütteler Kunst- und Raritätensammlung voranzutreiben. Im Begleitschreiben hat Reinhartt eine lange Provenienzgeschichte des Glases niedergelegt, das sich im Nachlass des Nordhauser Reformators und gräflich-hohnsteinischen Kanzlers Peter von Bötticher (1525–1585) in Halberstadt befunden haben soll. Bötticher war dort ab 1567 bis zu seinem Tod zugleich Stiftskanzler Herzog Julius’ von Braunschweig-Wolfenbüttel (1578–1617). Insofern ist die Provenienzgeschichte schon früh mit dem Haus Wolfenbüttel verknüpft. Reinhartt führt den Besitz des Glases bis auf Luthers Weggefährten Justus Jonas (1493–1555) zurück, der es von Luther persönlich geschenkt bekommen haben soll. Diese Anekdote ist jedoch auch andernorts überliefert: Etliche Besitzer von vermeintlichen Luthergläsern berufen sich darauf, dass es sich bei ihrem Stück um das nämliche Luther-Jonas-Glas handele. Größtes Anrecht hat vermutlich die Stadt Nürnberg, deren Lutherglas annähernd der überlieferten Beschreibung entspricht (Abb. 2). Auf das Glas sollen lateinische und deutsche Verse und die Bildnisse Luthers und Jonas’ gemalt worden sein, wovon bei dem Wolfenbütteler Stangenglas keine Rede sein kann. Wenngleich der Fuß, wie in der Quelle beschrieben, in vergoldetes Silber gefasst wurde, ist dies jedoch kaum ausreichend, um das solide Trinkgefäß mit dem dünnwandigen, heute im Germanischen Nationalmuseum befindlichen Kelchglas zu verwechseln. Vielmehr scheint es offensichtlich, dass der Schenker Reinhartt oder diejenigen, die ihn zur Schenkung veranlasst haben, eine Nobilitierung des Wolfenbütteler Glases vornehmen wollten und deshalb die Anbindung an ein bekanntes Narrativ suchten. Dieses geht auf eine Begebenheit zurück, wonach der betagte Luther am 25. Januar 1546 auf seiner letzten Reise nach Eisleben in Halle eintraf, um Justus Jonas zu besuchen (Stammtafel 1940, S. 84). Bei Tisch soll Luther aus dem neuen, ihm mitgebrachten Glas getrunken und folgenden lateinischen Trinkspruch kundgetan haben:

Dat vitrum vitro Jonae vitrum ipse Lutherus, | Ut fragili vitro similem se noscat uterque. – Dem alten Dr. Jonas bringt Dr. Luther ein schön’ Glas, | Das lehrt sie alle beide fein, daß sie zerbrechliche Gläser sein (zit. n. Stammtafel 1940, S. 84).

Abb. 2
Abb. 2 Lutherglas, Hall/Tirol, um 1530/1549. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg: Gl206_a
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Wir wissen, dass Luther Ende Januar in der Hallenser Marienkirche predigte. Er war aber hier nur auf der Durchreise auf dem Weg nach Mansfeld, um dort Streitigkeiten über die Verteilung der Bergwerkseinkünfte zu schlichten. Justus Jonas begleitete ihn auf dieser Reise, von der er nicht wieder nach Wittenberg zurückkehren sollte: Am 18. Februar verstarb Luther in Eisleben im Beisein von Jonas. Insofern wächst der überlieferten Anekdote eine über die Geselligkeit Luthers hinausreichende Bedeutung zu, transformiert sie das Trinkglas doch zum ‚Andenken letzter Hand‘. Der Trinkspruch selbst verweist auf Zer- und Gebrechlichkeit allen Seins im Sinne einer Vorwegnahme des nahen Todes. Der Objektvergleich mit dem Glas als Vanitas-Symbol trägt dabei schon Züge von Erinnerungskulturen, wie sie das 19. Jahrhundert zur vollen Blüte brachte. Noch stärker wird dies an einem vermeintlichen Luther-Glas aus Eisleben deutlich, aus dem Luther angeblich seinen letzten Schluck genommen hat. Denn Aussehen und Bestand sind erst durch ein historistisches Gemälde von 1905 – „Luthers letztes Bekenntnis“ von William Pape – nachträglich erfunden worden, das Luther auf dem Sterbebett und im Vordergrund ein Glas auf einem Tisch mit Schreibutensilien zeigt.

Die Objekte, die man mit Luther in Verbindung brachte, wurden im Zuge romantischer, aber auch nationaler Strömungen semantisch aufgeladen. Das Glas, zum einen Alltagsgegenstand, zum anderen Gabe, wurde Teil einer protestantischen Erinnerungskultur, die von Sentimentalität wie Pathos geprägt ist. Über die Bedeutung der Luther-Reliquien, zu denen auch das Wolfenbütteler Trinkglas zu zählen ist, liest man beispielsweise im Reformations-Almanach von 1817:

Es bedarf hoffentlich von unserer Seite keiner weitern Entschuldigung, daß wir uns versucht fühlen, in diesem, dem Andenken Luthers gewidmeten Büchlein, auch die Abbildung einiger sächlichen Gegenstände mit aufzunehmen: da es dem Gefühle jedes edeln Menschen so entsprechend ist, die Überreste und Verlassenschaft denkwürdiger Personen, deren Asche das Grab deckt, mit heiliger Liebe zu verehren, mit treuer Sorgfalt zu verwahren, sie mehr mit wehmuthsvoller Rührung, gewiß aber stets mit großer Theilnahme zu betrachten. Denn sie sind uns ja sichtbare Zeuge der einstigen Anwesenheit schon längst voran gegangener Sterblichen, deren Leben uns oft nur dunkle Sagen noch aufbewahren, deren Andenken uns aber in jeder Beziehung wichtig bleibt (Keyser 1817, S. LXXXV).

Weniger gerührt als vielmehr ernüchtert stellte hingegen der Amerikaner Harry E. Lutz, der die Wolfenbütteler Bibliothek im Herbst 1880 besuchte, fest:

They have a few curiosities to exhibit. Among them are a couple of specimens of Tetzel’s letters of indulgence, some manuscripts of Luther, his inkstand and, of course, his drinking glass. The museum or library in Germany which has not one of Luther’s beer mugs is in equally as woeful condition as the cathedral which has not a piece of the true cross. If I see a few dozens more drinking vessels of the reformer I shall begin to call for the documents (Lutz 1888, S. 292).

Das Bild von Luther als trinkfreudiger Reformator wird auch durch Objektgeschichten fortgeschrieben: Bierkrüge, Becher und Trinkgläser haben ihren Anteil an der Stabilität solcher protestantischer Alltagsmythen.

Constanze Baum

Literatur:

Küchenmeister 1879; Laube 2011.