Süchtig nach Splittern und Scherben
Energetische Bruchstücke bei Martin Luther
Stefan Laube
Gebrochen und aufgeladen
Luthers Realien entfachen bis heute die kollektive Phantasie der Nachlebenden, besonders an herausgehobenen Erinnerungsorten. Im „Heiligtum“ der Lutherstuben, in Wittenberg oder auf der Wartburg, bewundern seit Jahrhunderten Lutherpilger protestantische „Reliquien“.1 Der Vielfalt der Dinge, die mit der Person Luthers verbunden und vielerorts aus Verehrung oder Neugier, aus Gewinnstreben oder Prestigegründen in Szene gesetzt sind, scheint keine Grenze gesetzt: Kleidungsfetzen und Ringe, Becher und Gläser, Tisch und Stuhl, Tintenfass und Bettgestell – neuerdings sogar Geflügelknochen und Murmeln, die von Archäologen in einer Abfallgrube im Mansfelder Elternhaus gefunden wurden.2 Die Funktion derartiger Dinge besteht nicht zuletzt darin, den exzeptionellen, den aus dem Rahmen fallenden Luther vertraut zu machen, ihn zu einem Menschen wie du und ich werden zu lassen. Gerade weil man sich problemlos mit derartigen Dingen identifizieren kann, entwickeln sie in unmittelbarem Bezug zu einer weltgeschichtlichen Persönlichkeit eine spezifische Aura.3
Auf der einen Seite drohte (und droht) der Kult um Stätten und Dinge die Glaubensbotschaft zu verdinglichen und zu neutralisieren, auf der anderen Seite schien die Reformation die Traditionen so sehr in Frage zu stellen, dass ein Vakuum zwischen Gegenwart und Vergangenheit entstand, das der materiellen Kompensation bedurfte: „Wo keine Legate und Testate mehr zu holen waren, traten die Relikte in den Vordergrund.“4 Auch das welfische Territorium um Braunschweig blieb von dem durch Relikte gekitteten Traditionsbruch nicht unberührt. Identitätsstiftende bzw. skurrile Dinge zur Reformation waren hier in Bibliotheksgebäuden untergebracht. In der fürstlichen Bibliothek der Residenzstadt Wolfenbüttel – seit 1710 im Aufsehen erregenden Neubau der Rotunde zu Hause – zeigte man Schaulustigen neben Luthers Büchern (Kat. Nr. 2) auch sein Tintenfass (Kat. Nr. 1).5 Von einem Glasbecher hieß es, dass Luther selbst daraus getrunken habe (Kat. Nr. 7).6 In der Bibliotheca Rudolphea der Universitätsstadt Helmstedt war es – wie wir aus Konrad von Uffenbachs (1683–1734) Reisebeschreibung wissen – der den exzentrischen Auftritt liebende Bibliothekar und Orientalist Hermann von der Hardt (1660–1746) (Kat. Nr. 37), der Durchreisenden Bildnisse Luthers und Melanchthons sowie deren Autographen (Kat. Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4) zeigte.7 In einem Schrank befand sich dort zudem eine kleine Schachtel mit Luthermemorabilien, darunter der Doktor- und der Verlobungsring (Kat. Nr. 6) in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kuriosa der Natur wie einem „zimlich grossen Elephanten-Zahn“ und einem großen „Unicornu marinum.“8
Reliquien sind in den wenigsten Fällen vollwertig-komplette Dinge. Für den Erfurter Lehrer und Philologen Johann Gottlob Samuel Schwabe (1746–1835) beispielsweise war eine Reliquie in Abgrenzung zu einem Monument einfach nur ein relativ handlicher Überrest, eine absichtslose Überlieferung meist banaler Dinge von bedeutenden Personen.9 Entsprechend dieses von der Semantik des Restes geprägten Reliquienverständnisses soll der Fokus im Aufsatz nicht auf intakten Dingen, sondern auf ramponierten Überbleibseln wie Fetzen und Splittern, Flecken, Spänen und Scherben liegen. Unter ‚energetischen Bruchstücken‘ werden entsprechend kleinformatige Fragmente verstanden, Substanzen, denen eine Kraft innewohnt, defekte Dinge, die mit einer sogenannten agency, einer Wirkmächtigkeit ausgestattet sind, die denjenigen, der mit diesen Dingen umgeht, nicht gleichgültig lassen. Fragmente, die abgebrochen und abgekratzt werden, sind keine herkömmlichen Dinge und Substanzen mehr. Sie zeugen in ihrer Gestalt von mutwilliger Aneignung, in ihrer stückhaft-abstrahierten Figuration spiegeln sie ihr Vermögen, die Menschen zu elektrisieren und in ihrem Verhalten zu steuern. Lutherfragmente sind relevant, insofern ihnen ein Zauber oder imperativischer Mehrwert innewohnt. Bruchstücke Luthers oszillieren je nachdem, was sich ihr Nutzer von ihnen verspricht, zwischen Andenken, Trophäe und Talisman.
Auslöser des Beitrags ist ein an Banalität kaum zu überbietender Stofffetzen eines Luthergewandes in der Herzog August Bibliothek (Kat. Nr. 8), der – nicht größer als eine Briefmarke – ominös anmutet. Niemand weiß, ob er tatsächlich von einem Kleidungsstück stammt, das Luther getragen hat. Wenn mit diesem Objekt ein Wunder verknüpft ist, dann die Tatsache, dass es im Gegensatz zu vielen anderen Textilresten bis heute nicht in den Abfalleimer gewandert ist. Prämisse ist die Überlegung, dass von derartigen unvollständigen Dingen eine erhebliche Wirkung ausgehen kann. Solche Fragmente können als Miniaturen bezeichnet werden, in denen bestimmte Zeitmomente eingefroren und Wissensinhalte gespeichert sind. Ihre Ausschnitthaftigkeit geht gewissermaßen mit einer Ausweitung, ja mit einer Übertreibung des Inhalts einher. So kann ein Stofffetzen eine größere Aura besitzen als eine vollständige Kutte,10 wird mit jenem doch suggeriert, es sei eine Trophäe des unmittelbaren Körperkontaktes. Ist dieser Fetzen im Tumult von Luthers Gewand abgerissen worden? Man fühlt sich an den Bericht des päpstlichen Gesandten Hieronymus Aleander (1480–1542) vom Wormser Reichstag von 1521 erinnert:
beim Verlassen des Wagens schloss ihn [Luther] ein Priester in seine Arme, rührte dreimal sein Gewand an und berühmte sich beim Weggehen, als hätte er eine Reliquie in Worms des größten Heiligen in Händen gehabt; ich vermute, es wird bald von ihm heißen, er tue Wunder.11
Wenngleich Wunder, die Luther selbst vollbracht hätte, nicht überliefert sind, so entwickelte doch manches Bruchstück, das ihm zugeschrieben wird, nach seinem Tod eine übernatürliche Kraft. Bei Reliquien als aufgeladenen Überresten steht stets der Gedanke des pars pro toto im Vordergrund. Die mittelalterliche Reliquie zeichnet sich dadurch aus, dass noch kleinste Partikel zum Depot göttlicher Macht werden können. Ein bloßer Holzsplitter, wenn er vom Originalkreuz Christi stammt, kann die Passion und damit die gesamte christliche Heilsgeschichte verkörpern – so die Vorstellung über Jahrhunderte. Bei Luther und seinen Materialisierungen geht es meist weniger um die Auslegung der Heilsgeschichte als um die Behauptung historischer Bedeutsamkeit. Ebenso wie nach 9/11 eine auf dem Trümmerberg von Ground Zero gefundene Tasse mit Kaffeeflecken oder eine verbogene Jalousie Geschichte schreiben, wenn sie nur für echt gehalten werden, setzt auch der Stofffetzen die Imagination in Gang. Seit dem 18. Jahrhundert, seit dem Zeitalter der Aufklärung wurden derartige Lutherdinge insbesondere deswegen gehegt und gepflegt, weil man mit ihnen Neugierde wecken und historische Erinnerung transportieren konnte. Erinnerungsbrücken scheinen auf umso stabileren Pfeilern zu stehen, je mehr sie sich originaler Überreste bedienen. Mögen die jeweiligen Dinge auch noch so bruchstückhaft sein, so können damit doch zwei Faktoren miteinander vereint werden: Anschaulichkeit und Echtheit. Eine Reihe von Fragen drängt sich auf: Gelten energetische Bruchstücke als profan oder eher als sakral? Inwiefern stärkt eine schillernde Unbestimmtheit zwischen Faktizität und Fiktion das auratische Potenzial derartiger Sachzeugen? In welchem Verhältnis steht die menschliche Imagination zur Schwerkraft der jeweiligen Fragmente? Was unterscheidet einen Stofffetzen Luthers von einem, den irgendein anderer getragen hat? Was ist von Luthers Leben an diesem Stoffrest erkennbar?12
Die Reliquie – Anmerkungen zur protestantischen Begriffspraxis
Für alles, was von den Körpern von Tieren und Menschen sowie von deren Habseligkeiten übriggeblieben ist, gibt es einen Allgemeinbegriff: Das lateinische reliquiae bzw. das griechische ta leipsana. Im Lateinischen bedeutet das Wort als Adjektiv lediglich „übrig“ oder „restlich“. Erst als Substantiv hat es ein schillerndes Bedeutungsspektrum entfaltet, das vom wertlosen Rest bis zum Kultobjekt reicht. Während man im Englischen auf das „Relikt“, aber auch „Überrest“ bedeutende relic zurückgreifen muss, wenn man „Reliquie“ meint, sind andere Sprachen in dieser Hinsicht differenzierter. Im Spanischen etwa kann sowohl el resto als auch la reliquia die Bedeutung von „Reliquie“ annehmen, wobei resto weltlichen Personen zugeordnet wird und reliquia dem genuin christlichen Kult vorbehalten ist. So spricht man bei den leiblichen Überresten von Kolumbus von restos, aber nicht von reliquia.13 Eine Abhandlung mit dem Titel Reliquiae antiquae urbis Romae konnte im Französischen zu Les Restes de l’Ancienne Rome werden.14 Der von Calvin inspirierte Schweizer Theologe Jean Chassanion (1531–1598) verstand unter reliquiis die Überreste großer Knochen, mit denen die Existenz von Riesen zu beweisen war.15 Auch frühgeschichtliche Gefäße, die man auf frisch geackerten Feldern freilegte und von denen man annahm, sie seien wie Pflanzen aus dem Boden gewachsen, wurden „Reliquien“ genannt, so vom Pfarrer Leonhard David Hermann (1670–1736) in seiner Maslographia.16 Benutzt hingegen im Englischen ein Autor den lateinischen Terminus, dann wohl mit der Absicht, seiner Aussage eine besondere Sakralität zu geben. So nannte der Geologe und Paläontologe William Buckland (1784–1856) seine 1823 erschienene englischsprachige Abhandlung nicht ‚relics of the deluge‘ sondern Reliquiae Diluvianae, um dadurch etwas von der sakralen Aura zu vermitteln, die in seiner naturwissenschaftlichen Theorie eine zentrale Rolle spielt.17 1902 wurde in London eine Abhandlung veröffentlicht, die bei Shakespeare-Memorabilia bewusst von reliques und nicht von „relics“ sprach; ein Hinweis, dass es um nationale Heiligtümer gehen soll.18 Die sakrale Aufladung im profanen Rahmen ist dem Kunsthistoriker Wilhelm Sebastian Heckscher (1904–1999) bereits bei Francesco Petrarca (1304–1374) aufgefallen, der reliquiae und nicht ruinae oder fragmenta als Sammelbegriff von verehrungswürdigen Romruinen verwendete.19 Ihnen wandte man sich als physischen Überresten einer historischen, unwiederbringlichen Epoche ehrfurchtsvoll zu. An die Stelle der Segen spendenden Wunderkraft herkömmlicher Reliquien traten die Bedeutungsträger einer einmaligen, zum glänzenden Vorbild auserkorenen Epoche.
Im deutschsprachigen Raum als der Kernregion der Konfessionalisierung war der Begriff der Reliquie hingegen lange Zeit polemisch kontaminiert.20 Scharf hatte sich Martin Luther gegen den Reliquienkult gewandt. Zu einem geflügelten Wort ist Luthers knappes Verdikt des „alles tot Ding“ im Großen Katechismus geworden.21 Schon in seinen 1518 vorgelegten Resolutiones zu den Ablassthesen war es ihm ein besonderes Anliegen, die „wahren Reliquien“ ins Bewusstsein zu rücken:
Viele pilgern nach Rom und nach andern heiligen Orten, um den (ungenähten) Rock Christi, die Gebeine der heiligen Märtyrer, die Wohnorte und Fußstapfen der Heiligen zu sehen (was ich zwar nicht verwerfe), aber das beseufze ich, daß wir von den wahren Heiltümern, nämlich von dem vielfältigen Leiden und Kreuz, das die Gebeine und andere Erinnerungszeichen der Märtyrer geheiligt und so großer Verehrung würdig gemacht hat, so wenig wissen […].22
Jean Calvin (1509–1564) sollte sich in seinem Traité de reliques von 1543 unter dem Motto „La foi est une vision des choses qui ne se voient pas“ gegen jegliche dinghafte Adoration im Christentum aussprechen. Leicht fiel es ihm, die Authentizität von Reliquien anzuzweifeln, indem er auf zahlreiche Dubletten hinwies.23 Der Satiriker Johann Fischart (1546–1591) übersetzte Calvins Reliquienverständnis für den deutschen Sprachraum.24 Auf dem Frontispiz des heylig Brotkorb der h. römischen Reliquien sind die von der katholischen Kirche hoch gehaltenen Heiligtümer zu Gerümpel in einer Rumpelkammer geworden, wobei sich drei Personen noch bemühen, das halbwegs Brauchbare herauszufischen (Abb. 1). In der Bildmitte befindet sich ein kesselartiger Behälter mit zu Müll degradierten Gerätschaften, der die dahinter befindliche Lichtquelle verdeckt. Es kann kaum verwundern, dass Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel statt von „Reliquie“ lieber von „sanctas antiquitates“ sprach.25
Diese ideologische Verhärtung macht den Begriffswandel um 1700 umso auffälliger. Die nach Tradition lechzenden deutschen Protestanten integrierten den Terminus der Reliquie zunehmend in ihren Sprachgebrauch. Dabei blieben sie sich über die konfessionelle Brisanz dieser mehrdeutigen Rhetorik aber im Klaren.26 Rechtfertigende Äußerungen, die den Anschein abwehren sollten, in der evangelischen Kirche gediehen Formen der Heiligenverehrung, sind Legion.
Die Lutheraner halten nicht viel von Reliquiis. Von ihrem Heyland selbst haben sie nicht mehr als drey Stück, sein Wort, seine Tauffe, sein Nachtmahl. Es wird ihnen deswegen niemand nachsagen, als wenn sie mit dem Andencken des seel. Lutheri einige Abgötterey trieben. Unterdessen lassen sie doch nichts umkommen und verderben, wodurch etwa das Gedechtniß des großen Mannes kan erhalten werden.27
Protestanten, die das Wort „Reliquie“ affirmativ in den Mund nahmen, stammten meist aus der Lehrerschaft und dem Pfarrersstand. Sie hatten nie die Absicht, auf das den Reliquienpartikeln innewohnende Vermögen, Sünden zu vergeben, oder auf deren Wunderkraft hinzuweisen. In Abhandlungen wie De reliquiis Lutheri, diversis in locis asservatis von Georg Heinrich Götze (1667–1728) aus dem Jahre 1703 werden unter „Reliquien“ paragraphenweise Mönchszellen in Magdeburg oder Erfurt, Lutherstuben auf der Wartburg und in Wittenberg, Ringe und Becher und schließlich eigenhändige Manuskripte behandelt (Abb. 2).
Das Reliquienverständnis des Lübecker Superintendenten umfasst hingegen ausdrücklich nicht das, was ursprünglich mit „Reliquie“ gemeint war: Knochenstücke und andere Bestandteile des Körpers. Statt mit Ablass und Wunderkraft behaftet, wie in der Religiosität katholischer Regionen, stellten „Reliquien“ in diesem protestantisch-modernen Sinne ausschließlich Medien einer sentimental gefärbten Erinnerung dar. Neben dem Bild stiegen insbesondere dreidimensionale Dinge im protestantischen Verständnis zur „Reliquie“ auf. Selbst die Lutherstube wurde so bezeichnet. Der Begriff der Reliquie erlebte bei deutschen Protestanten als devotionales Souvenir eine regelrechte Konjunktur, ein Vorgang, der den dänischen Theologen Erik Ludvigsen Pontoppidan (1698–1764) durchaus irritierte:
Man zeigt sowohl zu Eisleben, seiner Geburtsstadt, als zu gedachten W[ittenberg] seine Kammer, Bett-Stelle, Thinte-Faß und andere Kleinigkeiten, die er berührt oder täglich gebrauchet hat. Diese Dinge werden zwar nicht angebetet, wie die Papisten mit den Reliquien ihrer Heiligen thun, gleichwohl aber kommt die Hochachtung, so man dafür hegt, der Anbetung ziemlich nahe.28
Im 19. Jahrhundert war die Reliquie schließlich in den protestantischen Wortschatz integriert und zwar mit positivem Wertakzent. Im sogenannten „Reliquien-Saal“ waren im 19. Jahrhundert handliche Luther-Devotionalien des Wittenberger Lutherhausesausgestellt.29 Diesen Reliquien waren Erinnerungswerte eingeschrieben, die im Zeitalter des Historismus zu Requisiten eines geschichtsphilosophisch aufgeladenen Narrativs geraten konnten, galt es doch, eine säkulare Geschichtsreligion, das Werden der deutschen Nation eingängig zu vermitteln. Gerade in diesem blendenden Rahmen waren die von der Aura der Einzigartigkeit umgebenen Memorabilien zugleich Objekte der Bewunderung, der Verehrung und des Nationalstolzes. Selbst Kopien dritten Grades wurden für echt angesehen, wie ein im Nürnberger Kunsthandel Mitte des 19. Jahrhunderts erworbener Stuhl, der in der Lutherstube der Wartburg Aufstellung fand.30
Holzsplitter zwischen Talisman, Souvenir und Heilmittel
Unter Lutherstättenbesuchern entwickelte sich geradezu ein Sport, nicht mit leeren Händen heimzukehren, sondern ein Mitbringsel bei sich zu führen – meist in Form eines hölzernen Splitters oder Spans. Holz war der bevorzugte Werkstoff bei der Ausstattung der jeweiligen Wohnräume Luthers in Eisleben und Wittenberg (Abb. 3).
Die hölzerne Säule in Luthers Geburtshaus wies zahllose Kratzspuren auf, zudem waren „viel 1000 Splitter abgeschnitten“.31 Das relativ weiche Material ist in seiner Mehrschichtigkeit leicht aufzuspalten. Ohne allzu große Kraftaufwendung können von einem Holzstück Späne abgeschlagen werden. In Eisleben lud vor allem Luthers Sterbebett zum Abkratzen und Herausschnitzen von Partikeln ein: „Ein Handwercke-Pursche hat zu Eisleben einen Splitter von dem Bette geschnitten/ darinnen Lutherus gestorben/ und damit als mit einem Heiligthum aller Orten geprahlet.“32 Wenn in Kriegen Soldaten durch Wittenberg zogen, nutzten auch sie den Aufenthalt, eine Lutherreliquie zu ergattern: „Und wie die Schwedische Armee Ao. 1708. in Sachsen stund, schnitten sie als eifrige Lutheraner, von Lutheri Haußrath soviel Späne ab“.33 Als stolzer Besitzer eines Luthersplitters gibt sich auch ein polnischer General zu erkennen, der während der Freiheitskriege in das ausliegende Gästebuch schrieb: „J’ai visité & enlevé de la table sur laquelle fut imposée la Bibel reformée par Luthers, a Vitemberg, un morceau de bois comme souvenir d’un grand homme, le 7 mars 1813.“34
In Eisleben existierte mit dem Sterbehaus die erste Luthergedenkstätte überhaupt. Es lockte bereits im Sommer 1546 Luther-Pilger an. Dort wurde nicht nur das Sterbebett gezeigt, sondern auch ein Stuhl sowie ein Glasbecher, aus dem Luther den letzten Schluck genommen haben soll.35 In städtischen und kirchlichen Quellen haben sich Klagen über Souvenirjäger erhalten. Nach 1563 verkaufte die Stadt die Immobilie an die Mansfelder Grafen, die dort ihre Kanzlei einrichteten. Die Objekte wurden weiterhin gezeigt, diesmal von einem gräflichen Diener,
mit der Verpflichtung, beide Stücke [Bett und Stuhl] den Reisenden zu zeigen, und dabei Luthers letzte Lebensumstände, und seinen sanften und seeligen Tod zu erzählen, mit der ausdrücklichen Erinnerung, die Bettstelle nicht abergläubisch, wie eine alte Reliquie, zu verehren, sondern daß jeder dabei an seinen eigenen Tod gedenke und schaffen möge, daß er auch seelig werde.36
Dennoch florierte bei den Besuchern weiterhin die Reliquienjagd nach Holzsplittern, so dass die inzwischen stark angegriffenen Möbel 1707 kurzerhand beseitigt wurden.37 Nachdem mehr als 150 Jahre lang Pilger kleine Bruchstücke aus dem Sterbebett geschnitzt hatten, beschloss die lutherische Geistlichkeit, diese der evangelischen Lehre wenig angemessene Praxis zu unterbinden. Luthers Sterbehaus geriet daraufhin in Vergessenheit, bis es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an falscher Stelle – wie wir heute wissen – wieder eine Renaissance erlebte: als neogotischer Repräsentationsbau mit Sitznischenportal, Maßwerk-Fenstern und Innenhof.
Es ist belegt, dass auch der Kastentisch in der Lutherstube auf der Wartburg, an dem Luther im Herbst 1521 die Bibel übersetzt haben soll, bis 1817 von Lutherwallfahrern so sehr abgeschnitzt worden war, dass er durch ein ähnliches Modell jüngeren Datums ersetzt werden musste. Man kann sich fragen, warum der dort als Fußschemel dienende Walfischwirbel – höchstwahrscheinlich ein lutherzeitliches Einrichtungsstück – weitgehend unversehrt geblieben ist (Abb. 4). Seine Härte machte ein Abbrechen kleinerer Partikel schier unmöglich. Wäre seine Materialität adäquat gewesen, wäre nach wenigen Jahrzehnten wohl nicht mehr viel vom Walfischknochen übrig geblieben, konnte er doch in Anlehnung an die biblische Geschichte aus dem Alten Testament, wonach der Prophet Jonas von einem Walfisch verschlungen wurde, zusätzlich als biblische Reliquie angesehen werden.
Die magische Besetzung der mit dem Reformator in Verbindung gebrachten Gegenstände hielt sich zumindest in Ansätzen in der protestantischen Volksfrömmigkeit. Manche glaubten, dass Holzpartikel vom Sterbebett bei Zahnweh und anderen Gebrechen helfen könnten.38 Ähnlich verfuhren die Besucher auf der Wartburg nicht nur mit dem Bettgestell in der Kammer der Heiligen Elisabeth, sondern auch mit Holzspänen aus Luthers Stube.39 Je vehementer Vertreter der lutherischen Orthodoxie Momente des Wunders aus ihrer Lehre und dem Gottesdienst verbannten, umso stärker scheint sich die Wundergläubigkeit ein Ventil im Alltag gesucht zu haben.40 Luther selber hatte den Wunderglauben keineswegs destruiert, wenn er ihn auch als vom Bösen bzw. Teufel verursachte Erscheinung negativ gedeutet hatte. Mit Selbstverständlichkeit akzeptierte er Mirakel an Wallfahrtsorten als übernatürliche Erscheinungen.41
Ein toter Baum als sprudelnde Reliquienquelle
Bäume als Symbole geheimnisvoller Stärke genossen nicht nur bei Germanen und Kelten eine große religiöse Verehrung.42 So mancher Baum erlangte auch im Einflussfeld von Luthers Wirken Kultstatus, gerade wenn er als malerische Rahmung für eine Ansprache des Reformators diente. Der romantische Dramatiker und Dichter Zacharias Werner (1768–1823) (Kat. Nr. 45) schrieb 1809 an Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) von der „dicken Linde bei Worms, worunter Luther gepredigt haben soll“.43 Damit war wohl die große Ulme in Pfiffligheim gemeint, deren gewaltiger Stamm infolge eines Orkans 1870 zerbrochen war. Der weiterhin grünende Stumpf besaß in der Folge eine große Symbolkraft als Zeichen für die Unverwüstlichkeit der lutherischen Lehre. Ein ähnlich abruptes Ende war der Buche bei Altenstein in Thüringen beschieden. Sie markierte die Stelle, wo die fingierte Entführung Martin Luthers auf die Wartburg stattfand (Abb. 5).44 Als ein Sturm die Buche im Jahre 1841 dahinraffte, fand eine bemerkenswerte materielle Transformation statt: von einem tief verwurzelten Baumstamm zu zahlreichen mobilen Mitbringseln. Herzog Bernhard II. von Sachsen-Meiningen und Hildburghausen (1800–1882) schenkte das Holz der Kirchengemeinde in Steinbach. In der dortigen Kirche „heilig aufbewahrt“ wurde es partikelweise an „Verehrer des heiligen Baumes“ gegen einen Obolus ausgegeben.
Darüber hinaus fertigte der Horn- und Holzdreher Karl Munkel aus dem Holz unterschiedlichste Objekte wie Spazierstöcke, Becher, Kelche, Dosen, Tintenfässer, Salzgefäße, Lineale etc. Die Objekte erfreuten sich großer Beliebtheit, da sie aufgrund ihrer Herkunft mit einem größeren Authentizitätsgrad versehen waren. Auf einem Kelch ist unter anderem zu lesen (Abb. 6):
Nicht rauscht es mehr bei Altenstein, in Luthers heiligem Baume! Was hier vergänglich war, lebt ewig in des Himmels Raume.45
In Form von Luther-Devotionalien – gedrechselt, poliert und lackiert – ‚überlebte‘ der Baum, dem man wie einer Person eine Zeugenschaft bei der fingierten Entführung zugesprochen hatte. Diese Reliquienpraxis erinnert an den angeblich von William Shakespeare gepflanzten Maulbeerbaum im Garten von New Place in Stratford. Der neue Besitzer des Anwesens fühlte sich von den Touristen so belästigt, dass er 1759 den Baum fällte. Zehn Jahre beschenkten die Stadtvertreter den Schauspieler David Garrick (1717–1779) mit einem aus dessen Holz angefertigten Kästchen. „Shakespeares Maulbeerbaum“ lebte seither in Stratford in so vielen Souvenirs weiter, wie sie eigentlich nur ein ganzer Wald hätte hergeben können.46
Typisch für die deutsche Situation war, dass protestantische Pfarrer sich vom herkömmlichen Reliquienverständnis demonstrativ abgrenzten. Auch Johann Conrad Orthmann, der Dorfpfarrer, in dessen Sprengel die Lutherbuche stand, wehrte sich entschieden gegen einen Vergleich mit Holzverkauf und Reliquienhandel der katholischen Kirche:
Dort werden Reliquien aufgesucht und verkauft, wohl hier und da nur im edlen Sinne, d. h. aus Achtung und Liebe gegen einen einstigen frommen Erdenpilger; aus Achtung gegen seine Tugenden, zur Erinnerung und zum Andenken [an] dessen edlen Gesinnungen und Handlungen. […] Aber ein anderes ist es, wenn die katholische Kirche das Volk nicht nur in Irrthum stürzt, sondern auch darin erhält, indem sie den Gebeinen und sonstigen Ueberbleibseln von für heilig gehaltenen Männern und Frauen, wunderthätige Kräfte beilegt; wenn sie lehrt, daß diese oder jene Reliquie, diese oder jene Krankheit heile; daß bloßer Anblick, bloße Berührung einer solchen gesund mache etc. Solche Ansichten kamen gewiß keinem Protestanten in die Seele, der Holz oder einen von der Lutherbuche verfertigten Gegenstand kaufte, nein, ein jeder betrachtete nur den Gegenstand […] als eine Merkwürdigkeit, als eine Erinnerung an den großen Mann Dr. Martin Luther.47
Tintenfleck und Teufel
Flecken sind Reste von Schmutz an Oberflächen, die meist – solange nicht entfernt – an eine Unachtsamkeit erinnern, wie beim Essen der Soßenfleck auf dem Hemd oder beim Schreiben der Tintenklecks auf der Hand. Befleckung wurde früher in einem Atemzug mit Entehrung genannt. Spricht Luther von der Befleckung des Geistes und des Leibes, so meint er damit die der Menschennatur von Geburt an innewohnende Sündhaftigkeit.48 Die Legende weiß zu berichten, dass Luther, in dem seine Gegner die Verkörperung des Antichrists sahen, den Satan mit dem Tintenfass attackierte (Kat. Nr. 1). Der Teufel war für Luther keine abstrakte Größe, sondern alltägliche Realität, gegen den man sich wappnen musste. Sobald es in einem Sack voller Nüsse raschelte oder es im Dachboden polterte, war Luther geneigt, den Teufel am Werk zu sehen.49 Ein probates Mittel gegenüber einem Teufelsbesuch war inniges Gebet und fröhlicher Gesang. Wenn er sich nicht durch einen kernigen Furz vertreiben ließ, wie in einer Tischrede aus dem Jahr 1531 überliefert, so konnte vielleicht der Wurf eines gefüllten Tintenfasses Abhilfe schaffen. Im Nachhinein musste die Legende von dem in der geistigen Isolation auf der Wartburg aus Wut gegen den Teufel geschleuderten Tintengefäß auf besonders fruchtbaren Boden fallen.50 Als Zeugnis dieser couragierten Tat blieb auf der Wartburg lange Zeit der Tintenklecks erhalten. Bis weit ins 19. Jahrhundert wurde er den Besuchern der Lutherstube gezeigt. Im Jahr 1672 war der Tintenfleck erstmals beschrieben worden, die dazugehörige Legende dürfte um dieselbe Zeit entstanden sein. Auf einem Stich ist der Tintenfleck von der Wartburg genau abgebildet, wobei man sich die Frage stellen kann, ob der Fleck tatsächlich so aussah oder ob einfach der Typus einer abstrakten Spritzer-Konfiguration wiedergegeben ist (Abb. 7).
Auf jeden Fall ist er in regelmäßigen Abständen erneuert worden, weil Besucher den Putz mit dem Tintenfleck Stück für Stück abkratzten. Noch heute fehlt an dieser Stelle der Putz. Auch in den Lutherräumen auf der Veste Coburg sowie im ehemaligen Augustinerkloster zu Wittenberg wurden derartige Tintenflecke immer wieder aufgefrischt. Offensichtlich bedürfen Mythen einer regelmäßigen materiellen Erneuerung, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. „Es kann seyn, die Dinte ist aber noch neu“51, so die skeptischen Worte von Zar Peter dem Großen (1672–1725), als er 1712 die Wittenberger Lutherstube besuchte. Ausführlich geht der deutsch-russische Gelehrte Jacob von Stählin (1709–1785) auf die beschriebenen Wände ein, als Peter der Große die Stube besuchte:
Ebendieselbe Wand [mit Tintenfleck] nahm der Monarch fast gänzlich von oben bis unten von Namen beschrieben wahr, und als er auf seine Frage, was diese Namen bedeuten sollten, vernahm, daß es lauter Namen von Fremden wären, die diese ehemalige Wohnung Dr. Luthers besucht und zum Wahrzeichen, daß sie daselbst gewesen, ihre Namen hingeschrieben hätten, so sagte der Zar: „Nun, so muß ich meinen Namen wohl auch hinschreiben,“ zog ein Stückchen Kreide aus der Tasche und schrieb seinen Namen Peter mit russischen Buchstaben neben den oben erwähnten Tintenfleck hin.52
Besonders an der Wand mit dem Tintenfleck haben sich die Besucher mit einem Graffito verewigt – auch der russische Zar (Abb. 8). Bis heute ist die Kreideinschrift Peters des Großen erhalten geblieben und durch Glas geschützt.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als man sich immer mehr bewusst wurde, dass der Tintenfleck kein authentisches Ereignis widerspiegelt, hat man ihn bei Restaurierungsmaßnahmen ganz entfernt, gemeinsam mit den Graffiti der Besucher. Nur die Inschrift des Zaren ist geblieben. Dabei war die Aussagekraft des Tintenflecks nicht unerheblich, dokumentierte er doch nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Teufel und Reformator, sondern belegte auch, dass Luther als Kämpfer gegen den Teufel kein Antichrist gewesen sein konnte.
Im übertragenen Sinne kann aus dem Fleck auch die Funktion der Tinte, Worte zu fixieren, abgeleitet werden. Damit war Luthers intensive Schreibtätigkeit für seinen Glauben als wirksame Waffe gegen das Böse gemeint. Im Vergleich zu einer anderen Fleckbildung eines berühmten Menschen ist der lutherische Fleck geradezu facettenreich. Hinter dem Fettfleck an der Wand im Ernst-Jünger-Haus zu Wilflingen verbirgt sich nicht mehr als Jüngers Angewohnheit, im Bett zu lesen und dabei den Hinterkopf an die Wand zu lehnen.53 Der Fettfleck mag dem Tintenfleck voraus sein, weil an seiner Echtheit nicht zu zweifeln ist. Dennoch erklärt er wenig vom Werk Jüngers; ganz anders der Tintenfleck, der Luthers aufbrausende Natur sowie die ihm in den Mund gelegten Worte veranschaulichte, er habe den Teufel mit Tinte bekämpft.54 Flecken scheinen Überreste zu sein, bei denen nur selten metaphorische Aussagekraft und Authentizität eine Symbiose eingehen.
Lebendige Bilder
Bilder sind eigenmächtige Dinge par excellence, ihre meist mimetische Darstellung fordert zur Stellungnahme auf, weckt Emotionen, die bis zum Wutanfall reichen können. Stichspuren auf Leinwänden geben davon Kunde. Zudem kann sich die Materialität auf der Maloberfläche ändern und zu seltsamen Deutungen Anlass geben, wenn sich zum Beispiel Tropfen bilden. Lutherbildnisse standen immer in Gefahr, durch einen altgläubigen Ikonoklasmus beschädigt zu werden. Im Jahre 1547, nach Ende des Schmalkaldischen Krieges, versetzte ein spanischer Soldat der berühmten Cranachschen Retabel in der Stadtkirche von Wittenberg mit seinem Dolch einen Schnitt, gerade in dem Bereich, wo der predigende Luther auf der Kanzel abgebildet war. Die Szene zeigt ihn in dem Moment, in dem er mit seinem Finger auf den gekreuzigten Christus weist. Aber niemand unter den Protestanten wäre auf die Idee gekommen, die Beschädigung zu beseitigen. Immer wieder kam es vor, dass Bilder der Reformation, die von Andersgläubigen beschädigt wurden, kultisch anmutende Erinnerungsspuren trugen. Ein Calvinist namens Petrus Salmuth warf in Wittenberg ein mit Bier gefülltes Glas auf ein Lutherbild, „daß die Scherben vom Glaß im Bilde stecken blieben/ und daß nach etlichen verflossenen Monaten D. Mylius selbst die Stücken Glaß dem Bildniß Lutheri in den Augen hat stecken sehen.“55
Dass sich die Lutheraner als „Kultbildfrevler“56 in Szene setzten, ist bekannt, weniger hingegen die Tatsache, dass sich das Bild auch bei ihnen zu einem Kultding entwickeln konnte. Das religiöse Bedürfnis begnügt sich dabei in der Regel nicht mit dem magischen Potenzial, wie sie der lebensechten Wiedergabe von Bildern inhärent ist, sondern ist auf anschauliche Zeichen des Wunders angewiesen.57 Während des Dreißigjährigen Krieges soll es in der Kirche zu Wurzen ein Lutherbild geschafft haben, dass ein katholischer Soldat, der gerade im Begriff war, diesem die Augen auszustechen, vom Stuhl fiel und sich das Genick brach. In Dresden wurde an der Mauer der ehemaligen Schlosskirche ein Lutherbild wieder sichtbar, nachdem es frisch übertüncht worden war.58
Wenn es auch von Anfang an den Anhängern der Reformation ein Anliegen war, Momente des Dingkultes durch Memoria zu ersetzen, beeinträchtigte die Akzentverschiebung von der Anbetung zur Erinnerung, wie sie in der Stadtkirche zu Jena in lateinischen Worten über der Grabplatte mit dem ganzfigurigen Relief Martin Luthers zu lesen ist,59 die Macht der Bilder keineswegs. Vielmehr ging sie in der populären Wahrnehmung weit über das für Luther zulässige Bild als Gedenkbild und als Illustration von biblischen Geschichten hinaus.60 Lutherbilder übten die Funktion fetischisierter Heiligen- und Gnadenbilder aus, wenn sie Tränen und Schweiß ansetzten oder vom Feuer unbeschädigt blieben.61 Das in der Kirche von Oberroßla im Weimarer Fürstentum aufgehängte Lutherbild begann regelmäßig zu „schwitzen“ und zwar immer dann, wenn bei einer Predigt aus Luthers Schriften zitiert wurde. 1651, 1681 und 1705 soll das Bild voller Tropfen gewesen sein, und zwar gerade im Bereich des Gesichtes und der Bibel, „welches demnach nicht von der Feuchtigkeit der Mauer kann herrühren/ zumahl die andern dabey stehenden Bildnisse dergleichen nicht gezeiget.“62 Vor einer großen Überschwemmung im Jahr 1613 soll das Bild in der Kirche dreimal am Tag geweint haben.
Wenn mit Luther in Zusammenhang stehende Bildnisse, Bücher und Räumlichkeiten Brände unbeschadet überstanden, war es nur ein kleiner Schritt, daraus die Unzerstörbarkeit seiner Lehre abzuleiten.63 Ein im Feuer unversehrt gebliebener Kupferstich Luthers aus Artern an der Unstrut wurde nach der Katastrophe in der Audienzstube „des Hochgräflichen Mansfeldischen Consistoriums“ in Eisleben gezeigt. Über dem Bild war folgende Inschrift angebracht: „Effigiies Lutheri in incendio Arterensi Anno 1634 mirabiliter fernata.“64 Eine Holztafel mit dem ganzfigurigen Porträt Martin Luthers eines unbekannten Eislebener Malers, die seit Ende des 16. Jahrhunderts über der Haustür seines Geburtshauses in Eisleben angebracht war und die Inschrift trug: „Anno 1483 ist D. Martin Luther in diesem Haus geboren und zu St. Peter getauft“, erhielt die Bezeichnung Unverbrannter Luther (Abb. 9).65 Später übertrug sich die vermeintliche Unzerstörbarkeit des Gemäldes auf das gesamte Geburtshaus, was durch die Tatsache seiner totalen Zerstörung im Jahr 1689 erheblich konterkariert wurde: „In Eisleben zeiget man das Haus, darinnen er ist gebohren worden. In etlichen Feuersbrünsten blieb es stehen, dahero man glaubte, dass es unverbrennlich wäre.“66
Verquickt war die Mär vom unverbrannten Luther mit seiner Biographie, da er selbst dem Feuer des Scheiterhaufens entkommen sei. So wurden die unversehrten Artefakte als göttliches Zeichen gegenüber den Gegnern der Reformation gedeutet. Protestanten griffen somit einen Topos auf, der gleichfalls aus dem mittelalterlichen Reliquienkult stammte. Die Feuerprobe galt als Mittel, die Echtheit zu prüfen, denn wahre Reliquien galten als unbrennbar.67 Zudem konnten sie sich auf das Alte Testament berufen, auf die Berufungslegende des Moses, in deren Mittelpunkt ein brennender Dornbusch steht, der nicht vom Feuer verzehrt wird. Das Ölgemälde auf Holz stellt eines der wenigen originalen Exponate dar, die sich aus dem Geburtshaus Martin Luthers vor dem Brand erhalten haben. Ursprünglich hing es außen über der Eingangstür, um allen auswärtigen Besuchern die Bedeutung dieses Gebäudes zu signalisieren. Der Magistrat hatte das Gemälde wahrscheinlich schon einige Zeit vor der Brandkatastrophe abgenommen, um es vor Schmähungen und Beschädigungen durch alkoholisierte Besucher einer im Geburtshaus untergebrachten Schankwirtschaft zu schützen.
Auch Bruchstücke der Natur nahmen bisweilen das Markenzeichen der Reformation an. In den Bergwerken um Eisleben entdeckte die Phantasie Neugieriger auf Schiefergestein das Porträt Martin Luthers, „welches wenigstens von eben so vielen Ansehen und Beweiß von der Wahrheit seiner Lehre seyn muß, als wenn die Römisch-Catholischen den Papbst oder einen anderen zu ihrer Lehre passender Figur in Mamor […] entdecket haben.“68 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der selbst geologische Forschungen in schwer zugänglichen Höhlen des Harzes unternahm, ließ sich von derartigen Bildsteinen nicht täuschen.69 Er wies darauf hin, dass sich hier kein Naturwunder verberge oder eine darüber hinaus weisende göttliche Macht dahinterstehe, sondern dass dieses Gestein durch die menschliche Einbildungskraft so erschien, genauso wie man zum Beispiel in Wolken Gebirge oder Schlachtengebilde erkenne.70
Zur Fragilität und Haptik von Bechern
Keine Geschichte der Lutherdinge ohne Becher und Gläser. Luther besaß nachweislich eine große Anzahl von repräsentativen Trinkgefäßen, die er von Freunden und Gönnern geschenkt bekam.71 Ihre Formsprache zeichnete sich durch besondere Vielfalt aus.72 Schlichte Humpen befanden sich kaum darunter, dafür elaborierte Gefäße aus Silber oder Glas, die zum großen Teil mit komplexen Aufschriften, Symbolen und Mustern versehen waren (Abb. 10).
Es ist bemerkenswert, wie viele der Becher unbeschädigt geblieben und noch heute zu besichtigen sind. Aber gerade Gläser sind nicht selten zu Bruch gegangen, wie das von Luther an Gilbert von Spaignard († 1632) verschenkte Glas, das von Friedrich Küchenmeister (1821–1890) auf der Grundlage der damals noch vorhandenen Scherben in den 1870er Jahren zeichnerisch rekonstruiert werden konnte. Es handelt sich um ein Fadenglas à la façon de Venise (Abb. 11).
Derartige Gläser waren im Lutherhaushalt anscheinend tatsächlich vorhanden, wie die Funde winziger Bruchstücke ähnlicher Fadengläser aus der archäologischen Ausgrabung hinter dem Wittenberger Lutherhaus nahelegen.73 Ob sich hinter den Scherben, die 1775 einem Studenten im Augusteum zu Wittenberg, das heißt genau gegenüber dem ehemaligen Klostergebäude, in dem Luther fast vier Jahrzehnte gewohnt hatte, neben anderen Luther-Memorabilien gezeigt wurde, auch ein venezianisches Fadenglas verbarg, kann nur vermutet werden.74 Die Beschreibung: „Ein großes zerbrochenes Glas in Form eines Kelchs, woraus Luther unter seinen Freunden getrunken hat“, ist eher unspezifisch. In Scherben zerfallen sei das Glas, weil es Zar Peter der Große aus Unachtsamkeit oder aus Wut auf die Erde hatte fallen lassen. Noch im 19. Jahrhundert war bei der Beschreibung eines Schrankinhalts davon die Rede: „Luthers Becher, sein zerbrochenes Trinkglas, angeblich von Peter dem Großen zur Erde geworfen“.75 Die einzelnen Scherben des gläsernen Pokals befanden sich in einem Futteral aus Pappe. Andenken in Potenz war diesen Bruchstücken eigen, verschränkte sich in ihnen doch die Erinnerung an Luther mit der an Peter den Großen. Diese Scherben bezeugten einen Akt der Destruktion, der sich aber erinnerungsgeschichtlich zu einem schöpferischen Arrangement zusammenfügt.
In jeder Gesellschaft ist gemeinsames Trinken ein grundlegendes Ritual, ein Zeichen, das Gemeinschaft stiftet.76 Die heute oft wegen ihrer zweifelhaften Herkunft mit dem Zusatz „so genannt“ oder „angeblich“ versehenen Lutherbecher und ‑gläser verkörpern in gewisser Weise den beleibten Luther, so wie er auf späteren Bildern stets dargestellt worden ist. In seiner zweiten Lebenshälfte war er alles andere als ein abgemagertes Gerippe.77 Luther hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er gerne Bier und Wein trank.78 Für den Genuss von Bier sprächen für ihn allein schon medizinische Gründe. Gegen Steinleiden gebe es kein besseres harntreibendes Mittel. Zudem diene Bier als probates Schlafmittel, beschere eine gute Verdauung und der Rausch habe nicht zuletzt die Funktion, den vom Teufel verursachten Trübsinn zu verscheuchen.79 Vor dem Aufkommen von Branntwein, von Kaffee und Tabak ganz zu schweigen, stellten Wein und Bier die einzigen gängigen Rauschmittel dar, Substanzen, die in der Lage waren, Stimmungslagen zu verändern, bisweilen auch das Bewusstsein zu erweitern. Im Umfeld dieser Objekte kommt Martin Luther als Genussmensch oder – in den polemischen Augen so manches Altgläubigen – als Säufer, der nicht Maß halten konnte, in den Blick (Kat. Nr. 26). Eine von 1589 stammende Adaption des siebenköpfigen Luthers lässt ihn in einem Arm seine Frau Katharina als Nonne, in dem anderen ein großes Trinkglas halten.80
Die zahlreichen Becher, die mit Luther in Verbindung gebracht wurden, zogen den Spott der Altgläubigen auf sich: „Die Papisten moquieren sich, daß sich unter D. Luthers Haußrath so viel Becher und Gläser befanden, und geben ihm deswegen die Schuld, als wenn er ein guter Schmauß-Bruder gewesen“.81 Ein antilutherisches Flugblatt mit dem „Jubel Glaß“ von 1618 schmähte Luther als genusssüchtigen Trinker (Abb. 12). Das Glas sei ein „ungeheurer Melkkübel“ gewesen, den Luther angeblich zweimal hintereinander geleert habe. Das Wunder, das sich mit diesem Objekt verbinde, bestünde allein darin, dass sich Luther nicht zu Tode gesoffen habe.
Trinkgläser sprechen nicht nur die Augen, sondern auch den Tastsinn an. Nur haptisch kann man sich die Flüssigkeit einverleiben. Auch bei dem Trinkglas, das die Herzog August Bibliothek aufbewahrt (Kat. Nr. 7), wird behauptet, dass Martin Luther daraus getrunken habe. Aber über so etwas wie das von Lady Di unmittelbar vor dem tödlichen Unfall benutzte Weinglas mit Lippenstiftabdruck am oberen Glasrand, das im Untergeschoss des Kaufhaustempels Harrods in London suggestiv in Szene gesetzt ist, verfügte die Luther-Memoria nicht. Körperliche Spuren des Reformators, wenn sie jemals vorhanden gewesen sein sollten, haben sich verflüchtigt.82
Trinkbecher sind fragil und die dazu gehörigen Trinkpraktiken vermitteln nicht nur Vergnügen, sondern bergen auch Gefahren. Im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens steht unter dem Lemma „Glas“ geschrieben, dass dem Zerspringen von Glas eine semantische Kraft innewohnt. Meist wird damit Unheil verkündet oder die Scherben bringen Glück. Bei Luther war Letzteres der Fall. So soll im Bürgerhaus zu Worms während des Reichstags von 1521 ein mit vergiftetem Wein gefülltes Glas geborsten sein. Es handelte sich also um ein magisches Glas, das in Stücke brach, bevor Luther daraus trinken konnte. Luther hatte es auf einer Bank abgestellt, nachdem er im Eifer der Diskussion nicht zum Trinken gekommen war.83 In der Reisebeschreibung Maximilien Missons († 1722) wird diese Begebenheit mit Luthers Auftritt gegenüber dem Kaiser auf dem Reichstag in Zusammenhang gebracht. Zerbrochen sei das Glas, weil er so laut geredet habe, wodurch ihm das Leben gerettet worden sei.
Es sey ihm aber, wie ihm wolle, so ist doch gewiß, dass der ort, worauff das glaß gestanden seyn soll, gantz ausgehöhlet war, wegen der Splitter, die davon abgeschnitten, und die einige von dennen eyferigen Lutheranern zum Andencken D. Luthers, als etwas gar sonderliches auffzuheben pflegen.84
Mit Gottes Hilfe sei Luther somit einem heimtückischen Giftanschlag entgangen.
Während des Wormser Reichstages kursierten Gerüchte, der Kaiser würde ihm wie schon im Fall des Jan Hus das zugesicherte freie Geleit verwehren und ihn auf den Scheiterhaufen bringen. Das Giftglasmirakel war auch Bestandteil von Baron Wilhelm von Löwensterns graphischer Serie über Luthers Leben aus dem Jahr 1827 (Abb. 13). Später taucht diese Szene nicht mehr auf, weil sie wohl als zu kurios, zu unwahrscheinlich empfunden wurde.85
Noch intakte Gläser können auch als Fassung für menschliche Körperreste dienen (Abb. 14).
Im Jahre 1541 war Martin Luther Eigentümer eines Glases geworden, das Anfang des 16. Jahrhunderts als prominenter Bestandteil zur Wittenberger Reliquiensammlung Friedrichs des Weisen gehörte (Abb. 15).86
Während das ursprünglich mit Knochenpartikeln der Heiligen Elisabeth gefüllte Glas traditionell die Reliquienschau eröffnete – mit dieser Inszenierung stellte sich der wettinische Kurfürst bewusst in die Tradition dieser populären deutschen, schon 1235 heiliggesprochenen Frau, mit der er sich zudem verwandt glaubte87 –, nutzte Luther das Glas für repräsentative Trinkrituale: In einer der Tischreden ist überliefert: „Er [Johannes Mathesius] holet auch übern Tisch ein kristallinen Glas, das Sanct Elisabeth sollt gewesen sein, darin schenket er selber und ließ einen Rundtrunck umhergehen.“88 Als Bestandteil einer Serie verwandter, aber nicht identischer Gläser, den „Hedwigbechern“, ist das Elisabethglas wahrscheinlich im östlichen Mittelmeerraum hergestellt worden. Manches spricht dafür, dass das Glas im Zusammenhang des dritten oder vierten Kreuzzugs, also um 1200, nach Europa gekommen ist.89
Glas galt damals als exotisches Wunderwerk, in Transparenz und Schliff mit nichts zu vergleichen. Seine morbide Aura ist dem transparenten Ding nicht anzusehen. Es erinnert weniger an einen Behälter von Leichenfragmenten als an ein modernes Whiskeyglas. Das Ding fällt aber auch deswegen aus dem Rahmen, weil es zum Besitz der Heiligen Elisabeth gehörte. Allein diese Zuschreibung verwandelte das Behältnis, das die Heilige berührt haben musste, in eine Reliquie, heutzutage spricht man von Sekundärreliquie. Der Reliquiengrad wurde noch spürbar erhöht, wenn man in das Glas Primärreliquien, das heißt heilige Knochen legte.
„Groß ist uns von ihm dem großen Manne das kleinste“90
Im Holzrahmen eines Stahlstichs mit der Darstellung von Luthers Geburtshaus in Eisleben befinden sich drei Bruchstücke hinter Glas – das Arrangement erinnert an so manches mittelalterliche Reliquiar (Abb. 16).
Angelegt hat die Sammlung ein Holländer, der im September 1838 auf den Spuren von Martin Luther wandelte. Auf Niederländisch hat er fein säuberlich dazugeschrieben, um welche Relikte es sich handelt: Oben war ein Stück von Luthers Tischtuch aus Eisleben, links eine Partikel eines Schreibgeräts aus der ehemaligen Mönchszelle des Augustinerklosters zu Erfurt und rechts ein Stück Holz vom Tisch in der Lutherstube auf der Wartburg. Dass es zwischen Raum und Religion einen eigenen Zusammenhang gibt, wie er sich zum Beispiel in der Idee des heiligen Ortes spiegelt, scheint auch in Traditionsgebieten der Reformation virulent geblieben zu sein. Ähnlich wie Pilger in der Umgebung von Jerusalem Dornen abschnitten, Stücke von heiligen Stätten losschlugen, Abdrücke von Christi Fußspur kauften sowie Nägel aus den Kirchen Jerusalems oder Splitter von der Hebroneiche mitbrachten,91 nahm der Besucher der Lutherstube reliquienartige Andenken mit, etwa Mörtelstücke mit dem Tintenfleck, Späne vom Boden oder von den Wandflächen. Noch heute werden Relikte von Luther-Erinnerungsstätten bei Auktionen angeboten, so jüngst der Span des Fußbodens von der Lutherstube in Wittenberg, den eine amerikanische Lehrerin zu Beginn des 20. Jahrhunderts an sich genommen hatte.92 Reliquiengier scheint im menschlichen Wesen tief verankert zu sein. Diesem Treiben war nur dann Einhalt zu gebieten, wenn das Objekt der Begierde entsorgt wurde, wie in Eisleben mit dem Sterbebett geschehen.
Im Zentrum dieser Darstellung standen Bruchstücke aus Luthers Leben, deren Funktion es war, nicht nur angeschaut, sondern auch angefasst zu werden. Die Objekte waren meist so klein, dass man sie jederzeit mit sich herumführen konnte, sie sogar in den Mund nehmen konnte. Die mit dem Tod einhergehende physische Abwesenheit einer verehrten Person hat die Menschen seit jeher veranlasst, persönliche Gegenstände oder gar Teile des Körpers der vermissten Person aufzubewahren.93
Forciert wurde die an Stofflichkeiten gebundene Erinnerung im Humanismus. Ob sie nun auf Herrscher ausgerichtet war oder auf Künstler, Dichter und Gelehrte. Zunehmend trat die Lebensleistung in den Vordergrund, während Kriterien der Abstammung verblassten. Das Objekt entwickelte seine Wirkungskraft nicht zuletzt als intimes Bruchstück. So fand die Dürer-Verehrung seit Mitte des 16. Jahrhunderts Ausdruck durch eine authentische Haarlocke.94 Alltägliche Dinge stark fragmentiert wiederzugeben, bedeutet, sie mit mehr Handlungsmacht auszustatten. Bruchstücke sind Diskursphänomene, deren Semantik durch die physische Reduktion nicht etwa geschmälert, sondern verstärkt wird. Es überrascht keineswegs, dass sich gerade auch an diesen Gegenständen Verehrungspotential entfalten konnte. Als Fragment verliert das Ding seine ursprüngliche Gestalt, es wird zu einem Abstraktum. Die Distanz zur ganzheitlichen Figuration kann nur die menschliche Imagination aufheben. Ähnlich wie beim religiösen Kult nährt sich dieser Kult aus einer Vielzahl von Legenden, die sich um Helden ranken. Sie werden aus einer Vermischung von Bild- und Textquellen, persönlichen, oft verklärten Erinnerungen sowie projizierten Sehnsüchten befeuert. Daraus speist sich der Wert dieser Fragmente, nicht aus ihrer Materialität.
Von Interesse ist auch, was nie ein energetisches Luther-Bruchstück geworden ist. So hätte sich auch eine Saite von Luthers Laute angeboten. Aber die Laute ist wohl nie ein originales Ausstellungsobjekt gewesen, wenn es auch als Bildsujet schon relativ früh auftaucht, als Emblem für konfessionelle Harmonie bzw. Versöhnung. Es ist zwar gesichert, dass Luther das Lautenspiel erlernt hat, nicht aber, ob er später selbst mit diesem Instrument musizierte. Oder wie wäre es mit einer Schwanenfeder als Schreibinstrument anstelle des allgegenwärtigen Gänsekiels.95 Im Schwan, der zu einem Attribut des Helden Martin Luther aufgestiegen war,96 kann man auch einen Wiedergänger von Jan Hus sehen, der erlittenes Unrecht rächt und das steckengebliebene reformatorische Projekt zur Vollendung führt. Als Bildzeichen machte der Schwan Karriere: Das älteste bisher bekannte Gemälde, das Luther mit dem Schwan zeigt, hängt in Braunschweig (Abb. 17). Die in zahlreichen Lutherbildnissen auftauchenden Schwäne verweisen auf Hus und damit auf den von ihm angestoßenen reformatorischen Diskurs. 1531 schrieb Luther: „S. Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem Gefängnis im Böhmerland schreibt: Sie werden jetzt eine Gans braten (denn Hus heißt eine Gans); aber über hundert Jahren werden sie einen Schwan singen hören, den sollen sie leiden“.97
Immerhin kann einem Floh Reliquienstatus zuerkannt werden (Abb. 18). Ein unbekannter Mönch aus dem 16. Jahrhundert, der ein Manuskript Luthers abschrieb, entdeckte zwischen den handgeschriebenen Blättern des Meisters einen toten Floh, von dem er annahm, dass Luther ihn persönlich zur Strecke gebracht habe. Vorsichtig löste er dieses Naturobjekt und klebte es behutsam auf einen Bogen Pergament.
Darunter stand geschrieben: „Floh, gefunden in Luthers Kollegienheft über die Propheten vom Jahr 1524/25 auf der Seite, welche am 5. April 1525 beschrieben wurde.“ Die Abschrift mit dem Floh verharrte vergessen auf dem Dachspeicher eines Klosters, bis im Lutherjahr 1983 das inzwischen mumifizierte Insekt bei einer gründlichen Aktensichtung in der Altenburger Außenstelle des Staatsarchivs Weimar wiederentdeckt wurde. Bekanntlich sind Flöhe dann in ihrem Element, sobald sie Blut saugen. Wenn der Floh vor seinem Ableben den Saugrüssel in die Haut des Reformators gebohrt hat, dann würde er Reste eines authentischen Bluttropfens von Martin Luther enthalten.98
1 Vgl. Laube 2011, S. 197–265; Laube 2007; Steffens 2008.
2 Kat. Halle 2008, S. 176f.
3 Siehe Laube 2014.
4 Assmann 1993, S. 53.
5 Bei all diesen und den meisten der Objekte, über die im weiteren Verlauf zu sprechen sein wird, empfiehlt es sich, stets den Zusatz „angeblich“ mitzulesen.
6 Uffenbach 1753, Bd. 1, S. 353; Kat. Wolfenbüttel 1979, S. 356f.; Raabe 1997, S. 77. Zudem zeigte man dort auch ein verrußtes Exemplar des Paradiesgärtlein, des berühmten Erbauungsbuches von Johann Arndt (1555–1621), das nach dem Brand eines Hauses angeblich unversehrt in der Asche gefunden worden war.
7 Uffenbach 1753, Bd. 1, S. 201 u. 204.
8 Ebd., S. 208.
10 Das Lutherhaus in Wittenberg zeigt in der ständigen Ausstellung eine Mönchskluft, von der behauptet wird, dass sie Luther gehört haben könnte.
11 Aleander 1897, S. 167.
13 Tejera 1879. Im Deutschen muss man mit „leiblich“ bzw. „sterblich“ ein Beiwort hinzufügen – „leibliche Überreste“ –, wenn man den Begriff der Reliquie vermeiden will.
14 Siehe Overbeke 1709.
15 Siehe Chassanion 1580. Von Ulisse Aldrovandi wurde postum zwischen 1642 und 1654 in Bologna De reliquis Animalibus exanguibus libri IV veröffentlicht.
16 Siehe Hermann 1711.
17 Buckland 1823. Buckland suchte nach Kompatibilitäten zwischen den Fossilienfunden ausgestorbener Tiere, wie sie in den Höhlen von Kirkdale in Yorkshire gefunden wurden, und der biblischen Erzählung von der Arche Noah.
19 Heckscher 1936, S. 28.
20 Siehe Angenendt 1994, S. 237f.
22 WA 1, S. 613 u. WA 12, S. 272.
23 Calvin 1962, S. 74f.
24 Fischart 1583. Wegen seiner zahlreichen Worterfindungen gelten Fischarts Übertragungen als eher frei. Fischart, der erst Lutheraner, dann Calvinist war, schrieb gegen den Verfall der Sitten an, den er in Papsttum und Jesuiten verkörpert sah.
25 Herzog August d. J. an Philipp Hainhofer, 26. November 1613, in: Gobiet 1984, S. 38.
26 Siehe Götze 1703, S. 259–300.
27 Lutheri Reliquiis 1737, S. 173f.
28 Pontoppidan 1746, S. 179.
29 Siehe Laube 2003, S. 143–155.
30 Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein, besonders während der Zeit des Kaiserreichs, waren es vor allem Pastoren, die sich diesen Stuhl nachbauen ließen. Damit eiferten sie ihrem Religionsgründer auch in der Sitzhaltung nach. Kleindorfer-Marx 1996, S. 11–23.
31 Götze 1703, S. 35.
32 Ebd., S. 31.
33 Pontoppidan 1746, S. 179.
34 „Ich habe [diesen Ort] besichtigt und vom Tisch, auf dem die von Luther reformierte Bibel ausgelegt war, ein Holzstück als Souvenir eines großen Mannes mitgenommen“. Besucherbuch des Lutherhauses in Wittenberg, Bd. 1 (1783–1817), o. P. [7.3.1813].
35 Schubart 1917, S. 87.
36 Berger 1817, S. 63f.
37 Ebd., S. 164f.
38 Siehe Keyßler 1776, Tl. 2, S. 1117f.
39 Steffens 2002, S. 323.
40 Siehe Thomas 1971; Scribner 2002.
41 WA 27, S. 510f. Vgl. auch Kühne 2008.
42 Demandt 2005, bes. S. 210 – 212; Joestel 2013, S. 106–115.
43 Friedrich Ludwig Zacharias Werner an Johann Wolfgang von Goethe am 22.8.1809, in: Schüddekopf/Walzel 1898–1899, S. 47.
44 Siehe Ortmann 1844, S. 271ff.
45 Ständige Ausstellung im Lutherhaus Wittenberg, Objekterläuterung im 2. Stock [besucht am 26. November 2015].
47 Ortmann 1844, S. 271– 273.
48 Als „Selbst-Befleckung“ wurde in der Frühen Neuzeit die Onanie bezeichnet.
49 Im Bergarbeitermilieu, aus dem Luther stammte, wimmelte es nur so von Berggeistern und Kobolden.
50 Schwarz 2005, S. 112–121; Joestel 2013, S. 188–196.
51 Oelrichs 1750a, S. 8.
52 Stählin 1988, S. 68. Vgl. auch Schippan 1995.
53 Bei der Restaurierung im Jahre 2011 entschloss man sich, diesen körperlichen Überrest eines großen Geistes zu übermalen. Thomas Thiemeyer: Ernst Jüngers Fettfleck. Originale in literarischen Gedenkstätten und Museen, Vortrag im Rahmen der Tagung „Der Wert des Originals“ im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 5.–6. März 2015. Siehe dazu Spiegel 2015.
54 Vgl. Schwarz 1991, S. 3.
55 Frimel 1646, S. 74.
56 Kretzenbacher 1977, S. 94–106.
57 Siehe Bredekamp 1995.
58 Siehe Gruppe 1974, S. 309.
59 „Nos dei gratia, Joh Guilelmus dux Sax. Landgr. Duringiae Marchio Misn. Lutheri Effigiem non cultus, sed memoriae gratia huc posuimus. A. MDLXXI“. Götze 1703, S. 31. Johann Wilhelm (1530–1573), Herzog von Sachsen-Weimar, hatte die Grabplatte im August 1571 in der Jenaer Michaeliskirche aufgestellt, weil sie nicht an die albertinische Linie der Wettiner gelangen sollte, in deren Herrschaftsbereich Wittenberg nach der Schlacht von Mühlberg im Jahre 1547 lag.
60 „Nu begehren wyr doch nicht mehr, denn das man uns eyn crucifix odder heyligen bilde lasse zum ansehen, zum zeugnis, zum gedechtnis, zum zeychen, wie des selben keysers bilde war“. WA 18, S. 80.
61 Siehe Brückner 1974, S. 269. Zum Andachtsbild als Fetisch siehe Freedberg 1989, S. 178.
62 Lutheri Reliquiis 1737, S. 174. Vgl. auch Tentzel 1704, S. 310.
63 Vgl. Scribner 1986a.
64 Juncker 1706, S. 271ff.
66 Lutheri Reliquiis 1737, S. 174.
67 Schreiner 1966, S. 9f.
68 Keyßler 1776, Tl. 2, S. 1117f.
69 Leibniz 1749, S. 75.
70 Janson 1961, S. 254– 266.
71 Heling 2003, S. 64f.
73 Kat. Halle 2008, S. 272 E 86. Diesen Hinweis sowie den Küchenmeister-Text verdanke ich Mirko Gutjahr (Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt).
74 Renaud 1906, S. 149f.
75 Elberfelder Zeitung, Nr. 295, 5.9.1883.
76 MacGregor 2013; Seitter 1997.
79 Joestel 2013, S. 131 f.
80 Ebd., S. 12.
81 Lutheri Reliquiis 1737, S. 180.
82 Auch die Frage, ob Luther an den Geflügelknochen, die vor wenigen Jahren in Halle ausgestellt waren, selbst genagt hat, wird sich wohl niemals klären lassen.
83 Neickel 1727, S. 133.
84 Misson 1713, S. 95.
85 Scharfe 1968, S. 194.
86 Kalkoff 1907, S. 55; Cárdenas 2002, S. 3f.
87 Wer die Reliquien im Glas am Montag nach Misericordias Domini sowie am Allerheiligentag – wenn sie in der Schlosskirche zu Wittenberg gewiesen wurden – andächtig betrachtete, bestimmte Gebete repetierte, der bekam einen genau definierten Ablass, das heißt ihm wurde für gebeichtete Sünden eine entsprechende Frist seiner Leidenszeit im Fegefeuer erlassen.
88 Mathesius 1898, S. 434.
89 Braunfels 1996, S. 44f. Koch 1981.
90 Theologiestudent Curtius, 1. August 1823, aus dem Besucherbuch, Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt (Aktenbestand/Wittenberg).
91 Röhricht 1900, S. 10 u. 22. Zu den ihnen eingeprägten Erinnerungen siehe Halbwachs 2003.
92 Siehe Schöne 2014.
93 Siehe dazu Habermas 1999.
94 Bouvier 2006, S. 104–107; Schmitt 2003.
95 Ein Schreib- und Lesepult in Gestalt eines Schwanes gibt es immerhin. Dieses Prunkstück aus dem 17. Jahrhundert wird im Geburtshaus Eisleben gezeigt.
96 Scharfe 1968, S. 189–192.
97 Zit. nach Joestel 2013, S. 35f.
98 Siehe dazu Heine 1987.
Zitierempfehlung: Stefan Laube: Süchtig nach Splittern und Scherben. Energetische Bruchstücke bei Martin Luther. In: Luthermania – Ansichten einer Kultfigur. Virtuelle Ausstellung der Herzog August Bibliothek im Rahmen des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel 2017. Format: text/html. Online: http://www.luthermania.de/exhibits/show/stefan-laube-suechtig-nach-splittern-und-scherben [Stand: Zugriffsdatum].