Luther trug schwarz

Angebliches Stück vom Rock Martin Luthers

Ein Stück von Luthers Rock in Wolfenbüttel? In der sogenannten Kulturgeschichtlichen Sammlung der Herzog August Bibliothek, die auf die Raritäten- und Kuriositätenkammer Herzog Augusts (1579–1666) zurückgeht, befindet sich neben anderen Luther-Devotionalien auch ein briefmarkengroßes Stück aus schwarzer, fester, enggewebter Wolle (Kat. Wolfenbüttel 1979, S. 357, Kat. Nr. 734). An einem Rand ist es stark ausgefranst oder ausgerissen, zeigt Ansätze von Insektenfraß und scheint ansonsten zurechtgeschnitten. Weitere Spezifika, die es erlauben würden, das Wollstück einem bestimmten Kleidungsstück zuzuweisen, sind nicht auszumachen. Wann und wie es zur Sammlung kam, ist ebenso ungeklärt wie seine Zuschreibung an Luther, entsprechende Inventarvermerke fehlen.

Das Wolfenbütteler Raritätenkabinett, in Zedlers Universal-Lexicon als „nicht sonderlich groß, doch aber auserlesen und wohl angeordnet“ gelobt (Zedler 1732–1754, Bd. 58, Sp. 835), versammelte neben allerlei Gemälden und Ausstattungsstücken auch Gegenstände, die dem Besitz Luthers zugeschrieben wurden. Häufig werden in Reisebeschreibungen ein Trinkglas (Kat. Nr. 7) und ein Löffel (Kat. Nr. 5), das Tintenfass aus der Wartburg (Kat. Nr. 1) sowie Luther-Autographen (Kat. Nr. 2, Nr. 3, Nr. 4) und Luther-Gemälde (Kat. Nr. 33, Nr. 34, Nr. 35) erwähnt. Quellen, die für eine wie auch immer geartete Verehrung dieser Gegenstände bürgen, finden sich nicht, wohl aber wird auch im Zedler den Stücken ein Seltenheitswert zugesprochen: Es seien „die merckwürdigsten Sachen, weil sie anderswo nicht vorkommen“ (Zedler 1732–1754, Bd. 58, Sp. 836). Anzunehmen ist daher, dass solche unikalen Dinge, die vermeintlich aus dem Besitz Luthers stammten und sich in der breiten protestantischen Bevölkerung einiger Beliebtheit erfreuten, gutgläubigen Besuchern, mit einer entsprechenden Anekdote angereichert, vorgeführt wurden (vgl. Laube 2011, S. 249). Die behauptete Authentizität bediente dabei die vor allem im 19. Jahrhundert wieder erstarkende Memorialkultur, denn die Gegenstände selbst hatten kaum materiellen Eigenwert vorzuweisen, mitunter waren sie halb kaputt, abgenutzt oder unvollständig. Zu Luther-Sammelobjekten gehörten allerorten persönliche Gegenstände, meist des alltäglichen Lebens. Bereits im 16. Jahrhundert waren Wallfahrten zu Luthergedenkstätten üblich, die zur „Genese einer protestantischen Erinnerungskultur“ (Burschel 2004a, S. 59) beitrugen.

Von Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734), einem aufgeklärten Frankfurter Reiseschriftsteller und Gelehrten des 18. Jahrhunderts, ist eine Schilderung überliefert (vgl. Kat. Nr. 1), aus der sich schlussfolgern lässt, dass es offenbar eine gängige Praxis der Vorführung von Luther-Raritäten in Wolfenbüttel gegeben hat. Ob diese eine Sonderstellung gegenüber anderen Sammlungsgegenständen hatten, lässt die Quellenlage nur schwer erkennen. Bei Uffenbach – dessen Interesse an Büchern und Handschriften weitaus größer ist als am Raritätenkabinett – schwingt in jedem Fall eine gewisse Klage wegen der ungenügenden Präsentation und Aufbewahrung „in einem kleinen schlechten Schranke“ mit (Uffenbach 1753, S. 353).

Von einem Stofffetzen oder ‑stück, das von Luthers Rock oder seiner Kutte stammen könnte, ist allerdings weder bei Uffenbach noch in einer anderen, die Sammlung in Wolfenbüttel betreffenden Quelle je die Rede. Wir finden auch keine Erwähnung in Georg Heinrich Götzes De reliquiis Lutheri (1703), ebenso wenig in Jonas Apelblads Beschreibung seiner Reise durch Ober- und Niedersachsen (1785). Auch Reisebeschreibungen aus dem 19. Jahrhundert nennen das Stück nicht. Ein entsprechendes anekdotisches Narrativ, mit dem sich das Wollquadrat in die lutheranische Hagiographie hätte einschreiben können, fehlt. Überhaupt werden Gewandungen in der Wolfenbütteler Sammlung durch die Jahrhunderte hinweg nicht oder nur am Rande erwähnt und scheinen daher vor Ort keine größere Bedeutung erlangt zu haben.

Bislang findet sich nur ein weiteres, in Stofflichkeit und Farbigkeit vergleichbares, streifenförmiges Wollstück, das heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg aufbewahrt wird, wohin es 1942 – zusammen mit einem Kuvert, der es als „ein Stück von Dr. Luthers Rock“ ausweist – durch eine Schenkung der Universitätsbibliothek Erlangen gelangte (vgl. Zander-Seidel 2010, S. 109, Abb. 78 u. Kat. Nr. 384). Davor verlaufen auch hier die Spuren der Provenienz im Sand. Der Katalog einer jüngeren Ausstellung in Halle, in der beide Stücke erstmals zusammen gezeigt wurden, mutmaßt, dass beide Teile aus heute verlorenen Stoffmusterbüchern herausgetrennt worden sein könnten (Kat. Halle 2008, S. 318–320 [F 23]). Überkommene Kleidung Luthers ist rar gesät: In Merseburg konnte man im 19. Jahrhundert im Domschatz neben anderen Paramenten ein violettes Messgewand mit vermeintlichen Stickereien Katharina von Boras (1499–1552) besichtigen, das Luther am 2. August 1545 anlässlich der Weihe des Fürsten Georg von Anhalt (1507–1553) zum Stiftskoadjutor getragen haben soll (Engelhardt 1804–1818, Bd. 8, S. 285). Allein in Wittenberg zeigt man noch eine vermeintliche Luther-Kutte aus braunem Wollstoff, vielleicht die Ordenstracht eines Augustinereremiten aus dem 16. Jahrhundert. Ob Luther sie getragen hat, ist mehr als ungewiss (vgl. Treu 2003, S. 49; Joestel 2008, S. 8). So arbeitet auch die jüngste Museumsgeschichte durch die Zurschaustellung solcher Stücke am Kultstatus Luthers mit.

Zugestanden werden muss aber bei aller Marginalität des Wollstücks selbst, dass der Kleidung Luthers in der frühen Reformationszeit das Potential einer Kontaktreliquie innewohnte. Einer Anekdote des päpstlichen Nuntius’ Hieronymus Aleaner (1480–1542) zufolge trug sich beim Reichstag zu Worms (1521) folgende Begebenheit zu:

[…] beim Verlassen des Wagens schloss ihn [Luther] ein Priester in die Arme, rührte dreimal sein Gewand an und berühmte sich beim Weggehen, als hätte er eine Reliquie des größten Heiligen in Händen gehabt (Aleander 1886, S. 133).

Desgleichen sollen dort Frauen Luthers Gewand mit dem Rosenkranz berührt haben, um sich so Ablass zu verschaffen (vgl. Kästner/Schütz 1998, S. 55). Bekannte und eingeübte christliche Praktiken betrafen demzufolge Luther als Person schon zu Lebzeiten und wurden von päpstlicher Seite forciert zur Entlarvung Luthers als Antichrist oder Ketzer angeführt. Sie arbeiteten damit gleichzeitig und paradoxerweise einer lutherischen Hagiographie zu, die zwar in reformatorischen Kreisen schon früh auf schroffe Ablehnung stieß, sich aber nicht gänzlich abschütteln ließ. Luther selbst hat sich mehrfach gegen den katholischen Reliquienkult ausgesprochen. In seinen Resolutiones von 1518 schreibt er beispielsweise:

Viele pilgern nach Rom und nach andern heiligen Orten, um den (ungenähten) Rock Christi, die Gebeine der heiligen Märtyrer, die Wohnorte und Fußstapfen der Heiligen zu sehen (was ich zwar nicht verwerfe), aber das beseufze ich, daß wir von den wahren Heiligtümern, nämlich von dem vielfältigen Leiden und Kreuz, das die Gebeine und andere Erinnerungszeichen der Märtyrer geheiligt und so großer Verehrung würdig gemacht hat, so wenig wissen […] (Luther 1951, S. 272; vgl. WA 1, S. 613).

Dass der Wolfenbütteler Stoffrest Luther zugeschrieben wird, mag vielleicht der schwarzen Färbung eines alten robusten Wollstoffs geschuldet sein. Das Augustinereremiten-Habit war schwarz. Schwarz war zugleich die weltliche Modefarbe des 16. Jahrhunderts. Das sogenannte Luther-Triptychon von Weimar zeigt Luther in allen Lebensstationen im schwarzen Habit. Angesichts der Faktenlage liegt die Vermutung nahe, dass das Fundstück erst relativ spät in die Sammlung nach Wolfenbüttel kam oder zur Luther-Rarität umgewidmet wurde. Als Bestandteil von Sammlungen und Ausstellungen hat es trotz der mehr als fragwürdigen Provenienz lebendigen Anteil am Konstrukt der Lutherverehrung. Sicher ist nur: Luther trug schwarz.

Constanze Baum

Literatur:

Laube 2011.