Martinus Luther – Singularisierung, Fetisch und Marke
Aber, sind Sie sich sicher, daß diese Blätter auch echt sind? (Stefan Zweig 1927)
Martin Luthers umfangreiches Oeuvre und seine geradezu leidenschaftliche Textproduktion spiegelt sich nicht nur in seinen zahlreichen lateinischen und deutschsprachigen Druckerzeugnissen wider. Auch in Hinblick auf die handschriftliche Überlieferung erweist sich der Reformator als Vielschreiber. Eigenhändige Annotationen, Randbemerkungen und Korrekturen in Druckexemplaren seiner eigenen Werke sowie in seinen Handexemplaren anderer Schriften zeugen von der intensiven, professionellen Textarbeit, die Luther in seinem Sprachschaffen von Beginn an kennzeichneten. Früh bereits griff er für die indirekte Kommunikation auch auf das Medium Brief zurück und baute ein dicht geflochtenes epistolares Netzwerk mit breitgefächertem Empfängerkreis auf. Insgesamt sind etwa 2650 von Luther zwischen 1501 und 1546 verfasste Briefe bekannt, davon etwa 1050 in deutscher Sprache (Moulin 1990, S. 18f.). Luthers Handschrift ist eine gut lesbare Humanistenschrift mit Elementen der deutschen Kursive (Bischoff 2009, S. 201). Anfänglich noch etwas spitzer, dann im Lauf der Zeit etwas abgerundeter und breiter, behält der Duktus bei Eile der Niederschrift ein sicheres, typisches Schriftbild der Zeit bei (Exponat Nr. 4).
Die Schriftzüge bleiben insgesamt über die Jahrzehnte beständig und haben – trotz aller zeitgebundenen Normierung – einen entsprechend großen Wiedererkennungswert. Besonders die Unterschrift springt ins Auge – Martinus LutheR –, auch in deutschen Manuskripten wird in der Regel der latinisierte Vorname benutzt; neben Briefen begegnet sie vor allem auch in eigenhändigen Widmungen bzw. Eintragungen in gedruckten Büchern (Abb. 1).
Wie die Person Luthers bereits zu Lebzeiten Ikonencharakter erwarb – insbesondere etwa als sprachliches Vorbild –, so erlangten auch Autographen des Reformators schon früh eine verehrungs- bzw. prestigemarkierte Singularisierung, die sie sowohl für Privatsammler als auch Institutionen begehrenswert machten (vgl. Jung 1971, S. 17). Lutherautographen wurden über die Jahrhunderte hinweg als Objekte nicht nur musealisiert, sondern auch fetischisiert und – im Sinne des anthropologischen Ansatzes von Igor Kopytoff (Kopytoff 1986) – letztendlich zur Ware. Handschrift und Unterschrift werden zu vermarktbaren Objekten des Buchhandels und der Sammellust. Autographen üben insgesamt eine Faszination und eine Wirkung aus, die der leidenschaftliche Handschriftensammler Stefan Zweig (1881–1942), der auch ein Lutherautograph besaß, mit dem Reliquienhaften in Verbindung bringt:
Nur dann, wenn man solche Blätter als die sichtbaren Reliquien von Unsterblichen, als die sinnlichen Lebensspuren großer Existenzen ahnend erfaßt, nur dann kann ein geistiges und geisterhaftes Leben von diesen abgestorbenen Blättern in uns überklingen, ein Gefühl fast spektraler Gegenwart, wie sie wohl kein anderes Medium der Beschwörung ähnlich körperhaft erreicht (Zweig 1923, S. 22).
Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit können insbesondere ab dem 19. Jahrhundert „echte“ Lutherautographen beliebig oft, etwa als Faksimiles in Büchern oder als Postkarten, vervielfältigt werden. In der Gegenwart findet sich vermehrt auch die Unterschrift Martinus Luther – ihrem ursprünglichen Kontexten entnommen und quasi als ‚Markenname‘ – im Zusammenhang mit Jubiläumsjahren auf den unterschiedlichsten Trägern wieder, von Kleidungsstücken über Tassen bis hin zu Kochschürzen, Mousepads und Handyhüllen.
Mit Sammellust und Warenwerdung rückt das Ökonomische ins Blickfeld, und so überrascht es nicht, dass Luthers Handschrift gefälscht wurde und eine Rolle spielte in einem der größten Fälscherskandale des 19. Jahrhunderts. Obwohl relativ rasch aufgedeckt, halten die Luther-Falsifikate des Berliner Handelsmanns Hermann Kyrieleis aus den Jahren 1893 bis 1896 aufgrund ihrer hervorragenden Qualität und der hohen Zahl der Fälschungen heute noch Bibliothekare und Antiquare in Atem. Kyrieleis hatte relativ günstig Reformationsdrucke erworben, in die er Lutherwidmungen eintrug und dann – oft mittels seiner Bedürftigkeit simulierenden Ehefrau – gewinnbringend an Händler und Sammler verkaufte (vgl. Herrmann 1905; Koschlig 1970; Jung 1971, S. 197–200). Die Widmungen, echten Vorlagen in deren Formelhaftigkeit nachempfunden, bestehen in der Regel aus einem kurzen Text (etwa einem Bibelspruch), dem Namen des Empfängers, dem Datum und Luthers Unterschrift. Als Beispiel sei hier ein Falsifikat genannt, das aus einem Auszug aus dem Alten Testament (5 Mose 32,1–4), einer Widmung – „Vereret meynem gutten freunde Hans Günther zu Eysleben am xx Decemb. MDXXXX“ – sowie der Unterschrift „Martinus Luther“ besteht (vgl. Herrmann 1905, S. 28, Nr. 26; Koschlig 1970, S. 236, Abb. 4) (Abb. 2).
Auch ein vermeintliches Autograph des symbolträchtigen Lutherliedes „Eine feste Burg ist unser Gott“ stammt aus der kyrieleisschen Feder, wie Max Herrmann (1865–1942) in einer nahezu kriminalistisch-forensischen Beweisführung darlegen konnte – unter anderem weil die Tinte ganz anachronistisch in Wurmlöcher ausgelaufen war. Im Hinblick auf die Fertigkeiten des Fälschers, der neben paläographischen auch linguistische Eigenheiten Luthers berücksichtigte, hielt Max Herrmann fest: „Und so zeigte er denn auch bei der Fälschung der Luthersachen einen fast genialen Blick für echte Symptome. An diesem Kyrieleis, dürfen wir sagen, ist geradezu ein Philolog verloren gegangen“ (Herrmann 1905, S. 22). Bald schon nach Aufdeckung des Skandals erzielten Kyrieleis-Fälschungen – im Zuge des Verkaufs der vom Gericht beschlagnahmten, dann wiederum freigegebenen Beweisstücke – selbst hohe Preise auf dem Handschriftenmarkt. Auch als Fälschungen traten die kyrieleisschen Lutherautographen in den Kreislauf des Sammelns und Verkaufens ein, zum Teil auch unter Verlust ihres defizitären Status, also wiederum als (vermeintliche) Originale.
Claudine Moulin
Literatur:
Herrmann 1905; Jung 1971; Jung 1983; Koschlig 1970; Moulin 1990.