Lucas Cranach und die ‚Erfindung‘ des Lutherporträts

Martin Luther

Das kleinformatige Bildnis Luthers aus der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. (um 1472–1553) gehörte wie sein Pendant, das Porträt von Luthers Gemahlin Katharina von Bora (Abb. 1), im frühen 19. Jahrhundert zu den Sehenswürdigkeiten der Wolfenbütteler Bibliothek, insbesondere da sich an „Luther-Reliquien“ zu dieser Zeit noch sein angeblicher Doktorring und sein Trauring bzw. der der Katharina von Bora dort befanden (Kat. Nr. 6; Schütte 1997, S. 83–84, Kat. Nr. 43–44; Wenzel 2012, S. 63–70, Kat. Nr. 8–9; Schuchardt 2015, S. 38–42, 96–105, Kat. Nr. 25–32). Derartige Bildnisse wurden als durchaus üblich für eine Bibliothek angesehen, wie ein Vergleich mit der Ausstattung der Helmstedter Universitätsbibliothek durch Herzog Rudolph August (1627–1704) im Jahr 1702 und der Leipziger Universitätsbibliothek um die Mitte des 18. Jahrhunderts nahelegt (von der Hardt 1702, S. 12–13; Brückmann 1756, S. 121–128).

Die Wolfenbütteler Porträts des Reformators und seiner Ehefrau gehören zu einer Reihe von Bildnissen, die etwa 1525–1528 nach der Eheschließung der Dargestellten, unter Umständen mit Hilfe von Schablonen und Lochpausen (vgl. Kat. Nr. 34), in der Cranach-Werkstatt angefertigt wurden.

Abb. 1
Abb. 1 Lucas Cranach d. Ä. und Werkstatt: Katharina von Bora, Wittenberg 1526, Mischtechnik auf Holz, 22,4 × 16,0 cm, 19,0 × 12,6 cm (Bildfläche). HAB: B 94

Es wurden offensichtlich zwei hochrechteckige Serien in verschiedenen Formaten sowie eine Serie Rundbildnisse geschaffen. Die Rundbilder tragen häufig die Datierung „1525“, während die hochrechteckigen zumeist auf 1526 datiert sind. Die meisten Porträts weisen wie das vorliegende Luther-Bild das Schlangensignet und eine Datierung auf. Die früheste gegenwärtig bekannte hochrechteckige Variante ist die 1525 datierte Luther-Tafel in Bristol (City Museum and Art Gallery, Inv.-Nr. K 1650), die eine qualitätsvolle Ausführung, aber ebenso bereits die für die gesamte Serie charakteristische Unterscheidung zwischen summarisch wiedergegebener Kleidung und präzise und detailgenau ausgeführten Gesichtspartien aufweist. Hierin und in dem mit künstlerischem Anspruch und genauer Beobachtung – zum Beispiel der einzelnen Falten um die Augen Luthers – angelegten Kopf kommt die Wolfenbütteler Tafel dem Bristoler Bild durchaus gleich. Es kann davon ausgegangen werden, dass Cranach d. Ä. die Gesichtspartien bei diesen frühen Exemplaren – gerade für höherrangige Empfänger – noch in größerem Maße selbst ausführte.

Die größten Übereinstimmungen mit den Wolfenbütteler Bildern in Maßen und nahezu identischer Bildanlage weisen jedoch die Pendants auf der Wartburg auf (Eisenach, Wartburg-Stiftung: Inv.-Nr. M 65, M 64). Auch Signatur und Signet sind nahezu identisch, allerdings fehlen der Wolfenbütteler Schlange die charakteristischen Flügel.

Die Porträts stehen im Kontext von Vermählungs- bzw. Ehepaarbildnissen, die häufig als aufeinander bezogene und zusammen montierte Bilder der Ehepartner konzipiert waren und somit den neu geschlossenen Bund auch materiell und visuell bezeugten. Diese intendierte ikonographische Konventionalität und Normalität der Darstellung ist ihr eigentliches Skandalon, dokumentierten die Bilder doch die Ehe zwischen einem ehemaligen Augustiner-Mönch und einer entlaufenen Nonne. Die propagandistische Funktion solcher Gemälde wurde selbst in Luthers Tischreden thematisiert:

Es hatte Lucas Cranach der älter Doctor Martini Luthers Hausfrau abconterfeiet. Als nu die Tafel an der Wand hinge und der Doctor das Gemälde ansahe, sprach er: „Ich will einen Mann darzu malen lassen und solche zwey Bilder gen Mantua auf das Consilium schicken und die heiligen Väter, allda versammlet, fragen lassen, ob sie lieber haben wollten den Ehestand oder den Cölibatum, das ehelose Leben der Geistlichen.“ Nun fing Doctor Martinus Luther darauf an den Ehestand zu preisen und zu loben (WA, Abt. 2, Bd. 3, S. 378–379).

Die Serienproduktion der Ehebildnisse steht in diesem propagandistischen Kontext, auch wenn die 1000 Luther-Bildnisse, die laut Johannes Stigel (1515–1562) allein der Cranach-Sohn Hans (1513/14–1537) – und dies trotz seines frühen Todes – geschaffen haben soll, sicherlich Ergebnis einer dichterischen Übertreibung waren.

Die Ikonizität der von Cranach geschaffenen Bildnistypen des Reformators gewährleistete ihre Nutzung über die zur Entstehungszeit intendierten Funktionszusammenhänge hinaus. Man kann sogar sagen, dass die durch den Porträttyp des Ehebildnisses und die transportable Form der Klapptafeln suggerierte Nähe des Betrachters zum Dargestellten und die dadurch konstruierte ‚Privatheit‘ zwischen beiden entscheidend zu dem über die Jahrhunderte andauernden Erfolg von Cranachs Lutherbildnissen beigetragen haben. Selbst in einem akademischen Kontext wie einer Universität oder einer Bibliothek waren solche Strategien verfänglich, wie der oben angeführte Gebrauch gerade dieser Bildnis-Formulierungen belegt. Als ein Zeugnis für deren beständige Wirkungsmacht kann zudem der Umstand gedeutet werden, dass die Universitätsbibliothek Helmstedt im Jahr 1667 ein kleines Porträt ihres Gründers Herzog Julius von Braunschweig-Lüneburg (1528–1589) auf Kupfer mit einem Klappdeckel anfertigen ließ, der mit einer in Gold gemalten Rose verziert ist (Abb. 2).

Abb. 2
Abb. 2 Johann Kaspar Gercke: Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg, Wolfenbüttel 1667, Öl auf Kupfer, 19,2 × 18,4 cm (sichtbare Bildfläche). HAB: B 71

Diese Bildform bezieht sich explizit auf das Muster des ‚Privatporträts‘, das üblicherweise die klassische Memorialfunktion der Porträtkunst in einem ‚privaten‘ Umfeld erfüllte und auch häufig als Klapptafeln Ehebildnisse beinhaltete, wie dies bei den beiden Porträts der Eheleute Luther in der Herzog August Bibliothek wahrscheinlich der Fall war. Das Bildnis des herzoglichen Universitätsgründers, der zudem 1568 die Reformation im Fürstentum Wolfenbüttel eingeführt hatte, bedient sich folglich ähnlicher Strategien wie Cranachs Eheporträts des Reformators, die einen ‚privaten‘ Bildnistypus in eine ikonische, öffentliche Form überführten.

Michael Wenzel

Literatur:

Poulsen 2007; Schuchardt 2015; Schütte 1997; Wenzel 2012.