Ein legendäres Wurfgeschoss

Sogenanntes Tintenfass Martin Luthers

Doktor Luther saß auf der Wartburg und übersetzte die Bibel. Dem Teufel war das unlieb, und hätte gern das heilige Werk gestört; aber als er ihn versuchen wollte, griff Luther das Dintenfaß, aus dem er schrieb, und warfs dem Bösen an den Kopf. Noch zeigt man heutiges Tages die Stube und den Stuhl worauf Luther gesessen, auch den Flecken an der Wand, wohin die Dinte geflogen ist (Grimm 1994, S. 661, Nr. 556).

Luthers Wurf mit dem Tintenfass gehört noch immer zu den bekanntesten Erzählungen über das Leben des Reformators. Für die Deutschen Sagen (1816–1818) von Jacob und Wilhelm Grimm war sie auf die denkbar schlichteste Form gebracht, während sie in populären Lebensbeschreibungen (bspw. Jäkel 1840–1842, Bd. 2, S. 228) und Theaterstücken (bspw. Devrient 1898, IV,1, S. 73) mitunter reichlich Ausschmückung erfuhr. In dem an Sagen und Märchen besonders interessierten 19. Jahrhundert wurde die Legende vielfach kolportiert, so dass sie sich nachhaltig in das kulturelle Gedächtnis des deutschsprachigen Raumes einprägte (Gruppe 1974, S. 301. Vgl. auch Brückner 1974, S. 265f.) (Abb. 1).

Abb. 1
Abb. 1 Mihály Zichy: Luthers Vision (Luther látomása), 1871, Kohle auf Karton, 118 × 133 cm. Evangélikus Országos Múzeum Budapest
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Die Geschichte ist freilich älter, wenngleich nicht ganz so alt, wie es zunächst scheinen könnte. Von Mai 1521 bis März 1522 hatte Luther inkognito als „Junker Jörg“ auf der Wartburg gelebt und das Neue Testament übersetzt. In den posthum veröffentlichten Tischreden (1566) wird zwar von Anfechtungen und Heimsuchungen des Teufels berichtet, denen sich Luther in dieser Zeit ausgesetzt sah, doch eine Abwehr mittels eines Tintenfasses ist hier nicht überliefert (WA TR 6, 6816f., S. 209 ff.) – auch wenn Friedrich der Große Luther selbst für den Urheber der Geschichte hielt (Friedrich II. 1846, S. 239; Zeeden 1950–1952, Bd. 2, S. 338). Erst Ende des 16. Jahrhunderts wird eine vergleichbare Anekdote publiziert. Hier ist es indes der Teufel, der – weil Luther ihn mit Worten bezwungen hatte – „zornig und mit murren davon gieng/ und das Dintenfaß hinter den Ofen warff/ und einen starcken stinckenden Knall von sich gab/ daß die Stube etl[i]che Tage übel darnach roche“ (Gödelmann 1597, S. 24f. Übers. n. Richter 1667, S. 600f.). Offenbar rund hundert Jahre später findet die Geschichte in der heute bekannten Form erstmals im Druck Erwähnung. In der zweiten, um 1690 gedruckten Auflage von Martin Zeillers Topographia Superioris Saxoniae Thüringiae/ Misniae Lusatiae heißt es über Eisenach, die Stadt sei berühmt auch wegen der Wartburg, weil dort Luther „das Dintenfaß nach dem Teuffel geworffen haben soll/ daß noch heutigs Tags die Dinte davon an der Wand zusehen ist“ (Zeiller 1690, S. 66. Vgl. Luther 1933, S. 35–49; Schwarz 2005, S. 116; Steffens 2002, S. 320f.; Speth 2014, S. 193).

Gleichlautende Geschichten kursierten auch von anderen Aufenthaltsorten Luthers, an denen zeitweise ebenfalls Tintenflecken zu besichtigen waren (Schwarz 2005, S. 112). Der Fleck auf der Wartburg war aber sicherlich der berühmteste und vor allem der langlebigste. Dies lag nicht zuletzt daran, dass er, nachdem er wohl im späten 17. Jahrhundert hinter dem Ofen der Lutherstube aufgetaucht war, immer wieder erneuert wurde. Dies war notwendig, weil Besucher häufig Teile des befleckten Putzes als Souvenirs oder Devotionalien von der Wand kratzten (siehe Beitrag Laube). Allerdings scheint diese Renovierung eher unregelmäßig und uneinheitlich erfolgt zu sein. Während zumeist von einem Fleck die Rede ist, berichtet der Basler Theologe Hieronymus Annoni (1697–1770) in seinem Reisetagebuch, dass ihm 1736 zwei Flecken beiderseits des Ofens gezeigt wurden, die von einer mehrmaligen Abwehr des Teufels zeugten (Burkhardt/Gantner-Schlee/Knieriem 2006, S. 179). Hingegen notiert der Jurist Johann Carl Conrad Oelrichs (1722–1799) über seinen Besuch der Lutherstube auf der Wartburg im Jahr 1750: „Der Teufel soll auch hier nach ihm mit einem Dintenfaß geworfen haben, davon der Fleck an der Wand zu sehen gewesen sey […]; ich habe ihn aber nicht gesehen“ (Oelrichs 1750a, S. 111). Einige Jahre später war wieder ein Fleck vorhanden (Kurz 1922, S. 9; Thon 1795, S. 150), im Jubeljahr 1817 hingegen nicht: „Von der Tinte ist aber nichts mehr zu sehen. Wahrscheinlich haben sonderbare Merkwürdigkeitensammler sich Stückchen des geschwärzten Kalches zugeeignet. Da man die Stelle mir zeigt, konnte ich wenigstens nur den kahlen Stein erkennen, von dem der Kalch abgetragen war“ (Krauß 1817, S. 63f., Anm. **). Mitte des 19. Jahrhunderts scheint es erneut einen Fleck gegeben zu haben (Abb. 2). Bedingt durch die historische Bedeutung, die dem Ort zugemessen wurde, existieren zahlreiche Beschreibungen und Besuchsberichte der Lutherstube – doch nicht in allen findet der Tintenfleck Erwähnung. Sicher ist nur, dass er Anfang des 20. Jahrhunderts verschwunden war und auch blieb – bis es 2009 im Rahmen einer Kunstaktion zu einer vorübergehenden ‚Erneuerung‘ kam (Schwarz 2005, S. 118 ff.; Rothamel 2009).

Abb. 2
Abb. 2 Darstellung der Lutherstube auf der Wartburg, Bibliographisches Institut Hildburghausen, Stahlstich, Mitte des 19. Jahrhunderts. Privatbesitz des Verfassers
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Die Bedeutung des Wolfenbütteler Tintenfasses besteht mithin vor allem darin, dass es gleichermaßen als ‚Reliquie‘ aus dem persönlichen Besitz Luthers wie auch als Erinnerungsstück an die Legende fungieren konnte. Allerdings ist seine Herkunft bislang ungeklärt. Die wohl früheste Erwähnung findet sich in Paul Ludolph Berckenmeyers (1667–1732) Vermehrter curieuser Antiquarius (1709), dem zufolge das Tintenfass in der Wolfenbütteler Bibliothek gezeigt wurde (Berckenmeyer 1709, S. 392). Eine ausführlichere Darstellung bietet der Reisebericht des Zacharias Konrad von Uffenbach (1683–1734), der im Januar 1710 die Wolfenbütteler Sammlung besichtigte:

Den 2. Jenner Morgens giengen wir zum andernmal auf die Bibliotheck. Wir traffen Herrn Hofrath Herteln droben nicht an, sondern nur den alten Secretär. Dieser gute Mann, weil er sonst von Büchern nicht viel weiß, zeigte uns indessen, bis Herr Hofrath Hertel geruffen wurde, nach seiner Gewohnheit die Raritäten von Luthero. Selbige sind in einem kleinen schlechten Schranke, und bestehen aus folgenden Stücken: (1) Lutheri Dinten=Faß, rund, von Bley (2) Sein Löffel von Silber mit den Buchstaben V. D. M. I. A. (Verbum Domini Manet In AEternum). Unten, M. L. 1557 [Kat. Nr. 5]. (3) ein Trink=Glas gebrochen, in einem Futeral [Kat. Nr. 7]. (4) welches wohl das beste, ein autographum Lutheri in Quart. Grund und Ursach aller Artickel D. Mart. Lutheri, so durch Römische Bull unrechtlich verdammt seyn (Uffenbach 1753, S. 353f.).

Ähnliche Berichte und Sammlungsbeschreibungen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts legen nahe, dass die Vorführung der ‚Luther-Reliquien‘ ein fester Programmpunkt der Bibliotheksbesichtigungen war (Baring 1744, S. 235; Krünitz 1773–1858, Bd. 55, S. 417; Montesquieu 1894–1896, Bd. 2, S. 209; Neickel 1727, S. 134; Zedler 1732–1754, Bd. 58, Sp. 836). Einen expliziten Zusammenhang des Wolfenbütteler Tintenfasses mit der Wartburg-Legende stellt erstmals der Mediziner und Naturforscher Franz Ernst Brückmann (1697–1753) Mitte des 18. Jahrhunderts her: „In scriniolo quodam D. Lutheri atramentarium, vasculum plumbeum, in quo tuberculum, intus vergens, quod accepit, cum diabolum isto propellere conatus.“ – „In einem gewissen Kästchen [befindet sich] Dr. Luthers Tintenfass, ein kleines Gefäß aus Blei, in dem es eine kleine Beule nach innen gibt, die es erhalten hat, als er versucht hat, mit ihm nach dem Teufel zu werfen“ (Brückmann 1756a, S. 879; siehe auch Schönemann 1849, S. 70, Nr. 94) (Abb. 3).

Abb. 3
Abb. 3 Detailaufnahme: Blick ins Innere des Tintenfasses. HAB: KGS 3

Seit wann sich das vermeintliche Wurfgeschoss des Reformators im Bestand der Wolfenbütteler Sammlung befindet, ist unbekannt. Als wahrscheinlich kann angenommen werden, dass es unter Herzog Rudolf August von Braunschweig-Lüneburg (1627–1704) nach Wolfenbüttel gelangte. Der dem Pietismus in besonderer Weise zugeneigte Herzog ließ durch den Helmstedter Professor Hermann von der Hardt (1660–1746) eine umfangreiche Sammlung von Lutherdrucken und Reformationsschriften (Kat. Nr. 37) sowie von Handschriften Luthers und anderer Reformatoren zusammentragen (von der Hardt 1702, S. 14f.; Merzbacher 2015, S. 184). Trotz des prinzipiellen Primats des Buches im Pietismus war der fromme Herzog aber offenbar empfänglich für protestantische Reliquien. So habe Rudolf August den Doktorring und den Trauring Luthers (Kat. Nr. 6) von Friedrich August I. von Sachsen (1670–1733) zum Geschenk erhalten, weil dieser gewusst habe, „daß er solche Sachen sehr hoch schätzte“ (Oelrichs 1750b, S. 55. Vgl. Kat. Braunschweig 1996, S. 68, Kat. Nr. 60; Kühne 2013, S. 298). Ebenso war 1680 auch das sogenannte Lutherglas (Kat. Nr. 7), das seit den frühesten Berichten immer zusammen mit dem Tintenfass genannt wird, als Geschenk an Rudolf August in die Sammlung gekommen (Kat. Wolfenbüttel 1979, S. 356f., Kat. Nr. 733). Es ist also durchaus denkbar, dass das Tintenfass etwa zur selben Zeit nach Wolfenbüttel kam, in der auch die Geschichte von Luthers Wurf auf den Teufel erstmals gedruckt wurde.

Wenngleich das Wolfenbütteler Tintenfass angeblich aus dem Besitz Luthers stammte und Zeugnis einer der bekanntesten Legenden über ihn abzulegen schien, fand es keine Aufnahme in die einschlägigen Abhandlungen und Verzeichnisse von Luther-Reliquien des 18. Jahrhunderts (Götze 1703; Lehmann 1717Fabricius 1728–1730, Bd. 1, S. 501 f., Bd. 2, S. 953). Diese Nicht-Erwähnung mag vor allem auf den Umstand zurückzuführen sein, dass Wolfenbüttel nicht auf der Hauptroute des frühneuzeitlichen Luthertourismus lag (vgl. Roper 2015, S. 333f.). Gleichwohl war das Tintenfass in Verbindung mit der Legende geeignet, Luthers quasi-sakralen Status zu bezeugen: Die wiederholten Anfechtungen des Teufels, an die das Tintenfass erinnerte, rückten Luther demonstrativ in die Rolle eines Heiligen, vergleichbar der Versuchung des Hl. Antonius (Müller 1658, S. 201 f.; vgl. Scribner 1986b). Die ungewöhnliche Form, Größe, der Zustand und das Material des angeblichen Tintenfasses mochten den Eindruck des Exzeptionellen noch verstärken und überdies auch erklärlich machen, warum nach dem Wurf überhaupt noch etwas anderes als Scherben oder Splitter übriggeblieben sein sollten.

Trotz wichtiger Akzentverschiebungen war der Lutherkult im Verlauf des 17. Jahrhunderts in seiner sozialen Praxis erkennbar an die Stelle der altgläubigen Heiligenverehrung getreten (Scribner 1986a, bes. S. 66f.; Roper 2015). Daher bot die Zurschaustellung tatsächlicher oder vermeintlicher Hinterlassenschaften des Reformators bis weit ins 18. Jahrhundert einen willkommenen Anlass für katholische Kontroverstheologen, die Bigotterie der lutherischen Kritik an Reliquien herauszustellen:

Weilen die Lutherische selbst dasjenige verüben/ was sie an den Catholischen tadeln. Exempelweiß. Sie tadeln an den Catholischen/ daß sie die Reliquien der Heiligen GOttes verehren. Nun aber halten sie selbst in grossen Ehren deß Meineydigen Luthers Cantzel in Torgau/ sein Dinten-Faß/ sein Ehe-Bette/ seine Kleydung/ und so gar seinen Nacht-Stuhl e[tc]. Und hat Luther von sich selbst außgesagt/ es würde die Zeit kommen/ daß vornehme Herren seinen Mist würden anbethen (Kraus 1717, S. 66. Vgl. Kraus 1709, Tl. 1, S. 43; Berghauer 1730, S. 7).

Doch auch auf lutherischer Seite fand die Verehrung derartiger Reliquien keineswegs ungeteilten Zuspruch (bspw. Arnold 1699, Tl. 2, S. 47). Sowohl die Erwartungen an die Wirksamkeit resp. Wundertätigkeit der Objekte wie auch die darauf aufbauende Vermarktung geriet zur Zielscheibe des Spottes. Der Historiker und Rechtsgelehrte Johann Peter von Ludewig (1668–1743) etwa berichtet davon, dass jemand ein angebliches Tintenfass Luthers für hundert Dukaten gekauft habe, „weil er sich eingebildet, daraus um so viel geistreicher zu schreiben“ (Ludewig 1749, S. 955). Und der Theologe Johann Gottfried Zeidler (1655–1711) erzählt in einer seiner Satiren von einem Gelehrten, der in den Besitz des angeblichen Schreibkästchens Luthers gelangt sei, das dieser auf seiner letzten Reise nach Eisleben in Halle vergessen habe (Abb. 4).

Abb. 4
Abb. 4 Darstellung des angeblichen Schreibkästchens Luthers, in: Friedrich Keyser (Hrsg.): Reformations-Almanach für Luthers Verehrer auf das evangelische Jubeljahr 1817, Erfurt: Keyser 1817, Tafel 6. Wartburg-Stiftung Eisenach: Inv. Nr. G1380
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Dieses Kästchen, so plant der Gelehrte, lasse er „so viel müglich eben so groß vielfach nachmachen/ so werden sich die Theologi certatim [um die Wette] drum reissen/ denn es wird ein jeder dergleichen Heiligthum haben wollen“ (Zeidler 1700, S. 157) (Abb. 5). Zeidler wusste durchaus, wovon er schrieb, war er es doch selbst gewesen, der um 1684 als begeisterter Lutheraner das besagte Kästchen erworben hatte (Keyser 1817, S. 79; Speth 2014, S. 205f.). Dass es sich bei dem Wolfenbütteler Tintenfass um eine Replik handelt, wie sie Zeidler ersinnt, erscheint hinsichtlich seiner Materialität jedoch unwahrscheinlich.

Lange Zeit zählen Reiseführer das Tintenfass zu den wichtigen und von internationalen Besuchern gewürdigten Sehenswürdigkeiten der Stadt Wolfenbüttel (Baedeker 1864, S. 121; Bouchot 1887, S. 299; Heinemann 1969, S. 344; Lewald 1842, S. 171; Reichard 1843, S. 364; Stevens 1883, S. 433). Wie vielen anderen Reisenden wurde es auch dem schottischen Schriftsteller James Boswell (1740–1795), der im August 1764 die Bibliothek besichtigte, in Verbindung mit der Wartburglegende vorgewiesen: „We saw here Luther’s Inkhorn which he threw at the Devil’s head when he appeared to him. He hit him with such force that the Inkhorn which is of lead, has a deep dimple in it, & is very much crushed. A very just emblem of the outrageous temper of the Reformer“ (Boswell 2008, S. 76).

Abb. 5
Abb. 5 [Johann Gottfried Zeidler]: Das Verdeckte und entdeckte Carneval/Vorstellend Die wunderlichen Masqueraden und seltsame Auffzüge auff dem grossen Schau-Platz der Welt […]. Anderer Auffzug, o. O.: o. D. o. J. [1700], Frontispiz. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden/Deutsche Fotothek: 3.A.10018, angeb.15
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Noch Anfang des 20. Jahrhunderts, bevor es im Tresor seinen Platz fand, wurde das Tintenfass als einer der „Schätze“ der herzoglichen Bibliothek zusammen mit dem von Luther annotierten Psalter (Kat. Nr. 2), dem sogenannten Lutherglas (Kat. Nr. 7) und dem Lutherlöffel (Kat. Nr. 5) in einem der beiden großen Seitenschränke im repräsentativen Mittelsaal des 1887 eröffneten Neubaus der Bibliotheca Augusta aufbewahrt (Voges 1913, S. 724). Die wiederholte Erwähnung dieser Reliquien lässt darauf schließen, dass sich die Bibliothekare über mehr als ein Jahrhundert mit attraktiven – und wohl auch profitablen – Angeboten an Neugierde und Schaulust der Reisenden (siehe dazu Völkel 2007) und die allgemeine Lutherverehrung richteten. Das Wolfenbütteler Tintenfass veranschaulicht mithin die Rolle der Präsentation für die Bedeutungsgenese von Sammlungsobjekten (vgl. Becker 1996, S. 3; te Heesen 2001, S. 28f.): Weder sieht man dem Objekt seinen angeblichen Vorbesitzer an noch seine Verwendungsweisen als Schreibzeug und als Wurfgeschoss – all dies musste den interessierten Besuchern mündlich mitgeteilt werden. Umso mehr, als es keine Ähnlichkeit mit Tintenfässern des 16. und 17. Jahrhunderts aufweist.

Eine aktuelle Materialuntersuchung ergab, dass der Hohlkörper aus fast reinem Blei gegossen wurde. Das Loch auf der abgeflachten Unterseite wurde mit Weichlot ausgebessert, was jedoch keine näheren Aufschlüsse über Entstehungszeit und Verwendung erlaubt. Ein stark erhöhter Eisengehalt auf der Innenseite könnte allerdings darauf hindeuten, dass es tatsächlich als Gefäß für Tinte – die in der Frühen Neuzeit gebräuchliche Eisengallustinte – diente (Mai 2016, o. P. [Tintenfass]). Die Vermutung, bei dem Objekt handele es sich um ein vormodernes Artilleriegeschoss (Kat. Halle 2008, S. 332, Kat. Nr. F 29; Roper 2015, S. 333), kann aufgrund des Materials und der Dünnwandigkeit ausgeschlossen werden (Mitteilung von Fred Koch, Militärhistorisches Museum Dresden).

Hole Rößler

Literatur:

Brückner 1974Brückner 1996Gruppe 1974Luther 1933Roper 2015Scribner 1986bSchwarz 1991Schwarz 2005.