Zerlegt im Dienst der Historie

Die sogenannte Sammlung Hardt in ihrer heutigen Aufstellung

Für eine der bedeutendsten Sammlungen von Reformationsschriften weltweit bietet die sogenannte Sammlung Hardt einen unscheinbaren Anblick: 70 graue Kladden enthalten Hefte mit insgesamt etwa 1250 Drucken des 16. Jahrhunderts. Eingebunden sind sie überwiegend in billiges Umschlagpapier, das zu diesem Zweck meist sogar recycelt wurde. Während sich die übrigen Lutherdrucke der Herzog August Bibliothek über größere Sammlungen verteilen – zu denken ist an die 2400 Exemplare von Lutherdrucken aus der Bibliothek Augusts des Jüngeren und an die 1700 Exemplare aus der ehemaligen Universitätsbibliothek Helmstedt – zeichnet sich die Sammlung Hardt durch Geschlossenheit aus (Katte 2006). Neben 1186 Schriften von oder unter Beteiligung von Luther stehen Schriften von Schülern und Weggefährten, insbesondere Philipp Melanchthons (1497–1560), Georg Spalatins (1484–1554) und Caspar Crucigers (1504–1548). Zeitlich erstreckt sich die Sammlung über das gesamte 16. Jahrhundert – das jüngste Stück ist die Wolfenbütteler Ausgabe des kleinen Katechismus von 1602 –, der Schwerpunkt liegt aber auf den Jahren bis 1525. Nach Luthers Tod dünnt sich das Aufkommen stark aus. Unter den Druckorten dominiert, wie nicht anders zu erwarten, Wittenberg mit 762 Titeln, gefolgt von Magdeburg mit 101. Der Schwerpunkt der außerhalb Wittenbergs erschienenen Drucke liegt ansonsten erkennbar in Oberdeutschland, nur wenige Titel sind außerhalb des Heiligen Römischen Reiches erschienen. Die Drucke tragen zum großen Teil Benutzungsspuren; Besitzer des frühen 16. Jahrhunderts haben vielfach reiche Kommentierungen hinzugefügt und nicht selten ihren Namen hinterlassen. Unter den Vorbesitzern finden sich nicht viele Personen aus dem unmittelbaren Umkreis Luthers. Eine Wittenberger Ausgabe des deutschen Katechismus von 1529 ist durch die Hände Caspar Crucigers und Johannes Bugenhagens (1485–1558) gegangen, wie der Schenkungsvermerk „D. Iohanni Pomerano [Bugenhagen] Episcopo hamburgensi patri suo reverendo Caspar Cr[uciger]“ bezeugt („Für Johannes Pomeranus, Bischof von Hamburg, seinen verehrten Vater, von Caspar Cruciger“) (Katte 2006, Nr. 1597). Ebenso vertreten ist der süddeutsche Reformator Urbanus Rhegius (1489–1541) im Wittenberger Druck der Ermanunge zum fride auff die zwelff artikel der Bawrschafft ynn Schwaben von 1525 (Katte 2006, Nr. 1353). Da Rhegius seit 1530 die Kirchenreformen für Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg leitete und er 1541 in Celle starb, ist es nicht verwunderlich, dass Bücher aus seinem Besitz in Wolfenbüttel zu finden sind. Die meisten Besitzer, die sich mit Namen eintrugen, sind unbekanntere Zeitgenossen Luthers. Immer wieder stößt man auf Bücher von Heyno Gottschalk, Abt des Benediktinerklosters Oldenstadt bei Uelzen. Der den spätmittelalterlichen Reformbewegungen sehr zugetane Abt wandte sich so entschlossen der Reformation zu, dass er sein Kloster 1531 auflöste, dort aber bis zu seinem Tod 1541 ausharrte. Die Klosterbibliothek wurde von Heyno durch zahlreiche zeitgenössische Reformationsschriften bereichert, die er nach den erhaltenen Eintragungen unmittelbar nach Erscheinen erwarb und intensiv studierte. Zahlreiche dieser Schriften finden sich in der Herzog August Bibliothek, die meisten (98) in der Luthersammlung Hardt. Auf welchem Wege sie nach Wolfenbüttel kamen, ist noch nicht geklärt (Lesser 2012, S. XXXVII; Härtel 1999, S. 2; Härtel 1986, S. 18–20 u. 30–32).

Die Sammlung ist nach dem Helmstedter Professor und Bibliothekar Hermann von der Hardt (1660–1746) benannt, einer originellen und streitbaren Persönlichkeit (Abb. 1). Von der Hardt war seit 1688 Geheimsekretär und Bibliothekar von Herzog Rudolf August von Braunschweig-Wolfenbüttel (1627–1704).

Abb. 1
Abb. 1 Martin Bernigeroth: Porträt Hermann von der Hardt, Kupferstich, erste Hälfte 18. Jahrhundert. HAB: Portr. II 2191

Zwischen beiden bestand eine enge Freundschaft; sie verband besonders die Neigung zum Pietismus Philipp Jacob Speners und August Hermann Franckes, mit denen sie beide in persönlichem Kontakt standen. Die in der HAB erhaltene Korrespondenz zwischen beiden umfasst 1135 Briefe (Merzbacher 2015, S. 182–189). 1690 wurde von der Hardt zum Professor für orientalische Sprachen an der Universität Helmstedt ernannt, ein Amt, das vor allem auf die philologische Erklärung des Alten Testaments ausgerichtet war (Heinemann 1879). 1700 übernahm von der Hardt auch das Amt des Universitätsbibliothekars. Schon 1702 konnte er eine grandiose Erweiterung der Universitätsbibliothek präsentieren, in Form der Büchersammlung Herzog Rudolf Augusts, die dieser der Universität vermacht hatte (Hardt 1702). Nachdem Rudolf August 1704 gestorben war, verschlechterte sich von der Hardts Position an der Universität indes erheblich. Weil seine historisch-allegorische Bibelexegese als häretisch galt, wurde ihm verboten, Schriften darüber zu veröffentlichen (Mulsow 2010, S. 183–185).

Die Luthersammlung Hardt geht vermutlich nicht, wie früher angenommen wurde, auf die Privatbibliothek Hermann von der Hardts zurück, die angeblich nach seinem Tod 1746 von der Universität angekauft wurde (Katte 1996, S. 1). Von einem entsprechenden Verkauf ist nichts bekannt. Maria von Katte kann zudem im Katalog der Wolfenbütteler Lutherdrucke nur ein einziges Exemplar aus der Luthersammlung Hardt mit einem Besitzvermerk von der Hardts nachweisen, nämlich die Epistola Lutheriana ad Leonem decimum summum Pontificem, Wittenberg 1621 (HAB: M: Li 5530 Slg. Hardt [49, 900]). Das Buch ist mit einem Kaufdatum versehen, demzufolge von der Hardt es am 31. August 1677 erworben hat. Zudem trägt das Buch ein Exlibris von Herzog Rudolf August, was darauf schließen lässt, dass dieser es von seinem Freund von der Hardt geschenkt bekam. Weitere elf Bücher mit Besitzvermerken von der Hardts stammen nicht aus der nach ihm benannten Luthersammlung, sondern aus der Universitätsbibliothek Helmstedt und den Wolfenbütteler Augusteer-Beständen.

Eine näher liegende Vermutung ist es, in der Luthersammlung Hardt die Reformationsschriften zu sehen, die Herzog Rudolf August in seiner Braunschweiger Residenz und im Schloss Hedwigsburg sammelte (Raabe 1983, S. 32). Die dortigen Bibliotheken schenkte er 1702 der Universitätsbibliothek Helmstedt (Hardt 1703, S. 5). Diese Annahme ist allerdings nur dann plausibel, wenn man davon ausgeht, dass Rudolf August kaum Besitzvermerke in seine Reformationsschriften eintrug. Neben dem erwähnten Exemplar mit Exlibris, das Rudolf August von Hermann von der Hardt geschenkt bekam, können nur zwei Bücher dem Herzog eindeutig zugeordnet werden, das eine (HAB: M: Li 5530 Slg. Hardt [1, 2]) trägt einen handschriftlichen Besitzvermerk, das andere (HAB: M: Li 5530 Slg. Hardt [39, 686]) eine Geschenkwidmung von Heinrich Ludolf Benthem (1661–1723). Das Fehlen von Exlibris kann gut damit erklärt werden, dass es sich um ungebundenes Material handelt, was für eine repräsentative fürstliche Sammlung untypisch ist. Sollte eine Bindung geplant gewesen, aber nicht zur Ausführung gekommen sein, so hätte es keinen Grund gegeben, bereits die ungebundenen Hefte mit Exlibris zu versehen.

Mit einiger Sicherheit steht fest, dass sich die Luthersammlung Hardt im 18. Jahrhundert zu großen Teilen in der Universitätsbibliothek Helmstedt befand. Der ab 1771 unter der Leitung von Franz Dominicus Häberlin (1720–1787) angelegte Gesamtkatalog der Helmstedter Druckschriften (HAB: BA III 75–99) enthält unter dem Buchstaben F die Klasse Lutheri scripta. Auf 413 Seiten werden hier über 1400 Katalognummern aufgezählt. Zumeist handelt es sich um Einzeltitel, die Anordnung ist zudem innerhalb der Sachgruppen konsequent chronologisch. Im heutigen Helmstedter Bestand der HAB sind aus dieser Sachgruppe nur 203 Titel nachgewiesen. Die fehlenden Titel finden sich regelmäßig in der Luthersammlung Hardt. So ist die unter Exegetica in Quarto als Nr. 31 aufgeführte „Auslegung des 109ten Psalmen, Leipzig 1518“ vermutlich identisch mit M: Li 5530 Slg. Hardt (3, 31), dem einzigen Exemplar dieser Ausgabe in den Beständen der HAB. Von den Sermones, wozu 360 Katalognummern aufgeführt sind, finden sich nur noch acht Titel, die bezeichnenderweise alle ein Parallelexemplar in der Sammlung Hardt haben. Es scheint, als habe jemand im großen Umfang Schriften aus dem Helmstedter Bestand in die Sammlung Hardt verlagert, dabei aber vorhandene Ausgaben ausgelassen. Die erhaltenen 61 Titel Polemica sind entweder Teil eines Sammelbandes oder haben ebenfalls ein Parallelexemplar in der Sammlung Hardt. Auch das zeitliche Profil der Sammlungen, das im Katalog der Lutherdrucke durch eine Graphik verdeutlicht ist (Katte 2006, „Zur Sammlung“), spricht für ein komplementäres Verhältnis zwischen der Sammlung Hardt und den Restbeständen der ehemaligen Helmstedter Universitätsbibliothek. Die Verteilungskurve der Sammlung Hardt verläuft bis 1524 deutlich oberhalb, danach unterhalb der der Helmstedter Lutherdrucke. Dieser Befund passt zu der Annahme, dass insbesondere frühe und wertvolle Lutherdrucke aus der Helmstedter Bibliothek in die Sammlung Hardt gewandert sind.

Bemerkenswert ist weiterhin, dass nicht wenige Stücke aus der Bibliothek Augusts d. J. in die Luthersammlung Hardt eingegangen sind. Augusts Handschrift findet sich immer wieder auf den Titelblättern, mehrfach wird auch auf Seiten seines Bücherradkatalogs verwiesen, auf denen exakt diese Titel verzeichnet sind: So verweist etwa M: Li 5530 Slg. Hardt (1, 15) auf S. 2902, Band 201.1 Theol., Nr. 1 und M: Li 5530 Slg. Hardt (34, 511) verweist auf S. 3255, [Band 294.3 Theol.] Nr. 6. Demnach wurden auch Bücher aus der Bibliotheca Augusta in die Luthersammlung Hardt transferiert. Wie aus der Korrespondenz Rudolf Augusts im Jahre 1691 hervorgeht, erwog dieser tatsächlich, in der Bibliothek seines verstorbenen Vaters zu „fischen“, wozu er ein Gespräch mit seinem Bruder und Mitregenten Anton Ulrich (1633–1714) sowie dem Hofbibliothekar Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) ansetzte. Zumindest für einen Teilbestand fiel dabei aber die Entscheidung, ihn in Wolfenbüttel zu lassen, wo er mehr Glanz brächte (Merzbacher 2015, S. 186). Wahrscheinlich ist daher, dass die Auflösung von Augusteerbänden erst später, im 19. Jahrhundert, erfolgte, zu einem Zeitpunkt, als die Wolfenbütteler und Helmstedter Sammlungen bereits in einer Bibliothek vereinigt waren.

Im Bibliotheksarchiv der Herzog August Bibliothek findet sich eine Liste mit Schriftstücken, die Licht auf das Geschehen um die Verlagerung und Rückführung der Helmstedter Universitätsbibliothek im frühen 19. Jahrhundert werfen (HAB: BA III 151: „Manual der in d. J. 1810–1844 in Sachen der Helmstedter Universitätsbibliothek erfolgten Akten, Schreiben u. s. w.“; Hinweis von Dr. Bertram Lesser, HAB). Das „Manual“ nennt zwei Verzeichnisse, eines der „bei Revision der Lutherschriften in 4, 6. Jan. 1813 erfunden defecte“ und eines „deren bei Rücksendung im J. 1815 in Wb erfunden defecte“ (ebd., S. 2). Demnach kamen die Lutherschriften im Quartformat nach Aufhebung der Universität Helmstedt 1810 aus der dortigen Universitätsbibliothek gemeinsam mit den Handschriften und anderen wertvollen Beständen nach Göttingen und gelangten nach der Wiederherstellung des Herzogtums Braunschweig 1815 wiederum nach Wolfenbüttel. Weitere Lutherschriften, hauptsächlich im Folio- und Oktavformat, wurden 1828 von der Bibliothek des Helmstedter Juleums nach Wolfenbüttel abgegeben (ebd., S. 20).

Die Einbände der Sammlung Hardt zeugen von einer umfassenden Bearbeitung im 19. Jahrhundert. Anstelle eines festen Einbandes sind viele der Hefte in grobes, blaues oder graues Papier gebunden. Das Papier stammt teilweise, wie an Titelaufschriften zu erkennen, von der Zeitschrift „Überlieferungen zur Geschichte unserer Zeit“, die ihr Erscheinen 1823 einstellte und danach, anscheinend um die Mitte des 19. Jahrhunderts, feste Einbände erhielt.

Das Zusammenstellen einer Sammlung von ungebundenen Einzelschriften und das Auflösen von Sammelbänden war typisch für die Bibliothekspraxis des 19. Jahrhunderts. Die ansteigende Büchermenge und das neu erwachte Interesse an der historischen Überlieferung erforderten mächtigere Instrumente der Bestandsverwaltung. Es entstanden neue Kataloge, die vielfach mit einer Neuaufstellung des Bestandes verbunden waren – so ordnete in Wolfenbüttel Ludwig Conrad Bethmann (Bibliothekar 1854–1867) den Neuzugang des 18. und 19. Jahrhunderts in der sogenannten Mittleren Aufstellung. Ein Problem der systematischen Aufstellung bestand besonders hier in den zahlreichen Sammelbänden, die unabhängig voneinander erschienene Schriften verschiedenster Autoren vereinen. Um die Titel eines Autors gemeinsam aufstellen zu können, entschied man sich häufig für deren Auflösung. In Wolfenbüttel ist vor allem Karl Philipp Christian Schönemann (Bibliothekar 1830–1854) für die Auflösung von Sammelbänden bekannt (Zimmermann 1891). Eine wesentliche Motivation war dabei die Aufstockung des geringen Erwerbungsetats: Weil viele Schriften in mehreren Bänden überliefert waren, konnte er auf diese Weise Dubletten freisetzen, die sich auf dem neu entstandenen Antiquariatsmarkt absetzen ließen. Von Schönemann sind im Bibliotheksarchiv der HAB umfangreiche Verkaufslisten überliefert, ihre Auswertung in Hinblick auf Lutherschriften steht noch aus. Insgesamt ist es wahrscheinlich, dass die Luthersammlung Hardt unter Schönemann ihre heutige Gestalt erhielt. Neben der Chronologie sprechen dafür auch die Bindung in blau-graues Papier, wie es sich auch auf festen Einbänden dieser Zeit findet, sowie die Präsenz von Titeln des ehemaligen Augusteerbestandes in der Sammlung. Die Sammlung Hardt vereinigt demnach Drucke aus der Luthersammlung Rudolf Augusts mit solchen, die vor Schenkung der Bibliotheca Rudolphea im Bestand der Universitätsbibliothek Helmstedt waren, das heißt wahrscheinlich auch Drucke aus der älteren Wolfenbütteler Bibliotheca Julia, die 1617 nach Helmstedt abgegeben wurde. Hinzu kommen Drucke aus der Sammlung Augusts des Jüngeren, die vermutlich von Schönemann aus Sammelbänden entnommen wurden.

Die Benennung der Reformationssammlung der Wolfenbütteler Bibliothek nach Hermann von der Hardt hat auch dann einige Berechtigung, wenn sich nicht in nennenswertem Umfang Drucke aus seinem Besitz in ihr finden. Als Bibliothekar des Herzogs Rudolf August hatte von der Hardt maßgeblichen Anteil an dessen Sammlung von Reformationsschriften; nach dessen Tod betreute er die Sammlung über mehrere Jahrzehnte in der Helmstedter Universitätsbibliothek. Für die Erforschung der Lutherüberlieferung hat sich von der Hardt vor allem durch seinen dreibändigen Katalog der Reformationsschriften des Herzogs einen Namen gemacht. Die Antiqua literarum monumenta, Avtographa Lutheri Aliorumque Celebrium Virorum veröffentlichte er 1690–1693 als Geheimsekretär und Bibliothekar des Herzogs (Abb. 2).

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Abb. 2 Hermann von der Hardt: Antiqua Literarum Monumenta, Autographa Lutheri Aliorumque Celebrium Virorum, Braunschweig: Christoph Friedrich Zilliger 1690, Titelseite. HAB: M: Li 5586:1

Ziel sei es, die Schätze an Reformationsschriften, die der Herzog in seiner Braunschweiger Residenz hüte, den zeitgenössischen Gelehrten zur Kenntnis zu bringen. Mit großem Stolz verweist von der Hardt auf die zahlreichen als verschollen geltenden Schriften von Reformatoren, die von Rudolf August aufgefunden worden waren. Ein Beispiel sind die Hypotyposes Theologicae des Melanchthon von 1521 (Hardt 1690, S. 11 f.). Von der Hardt beschreibt anschaulich, wie man in kleinen und fast vergessenen Büchersammlungen nach zeitgenössischen Ausgaben der Reformatoren gesucht habe. Mit einem Horazzitat (ep. 2,1,279f.) deutet von der Hardt an, dass sogar als Verpackungsmaterial zweckentfremdete Schriften für die Sammlung gerettet wurden. Unterstützung habe die Suche, insbesondere nach Erscheinen des ersten Bandes, von Gelehrten erfahren, die Schriften aus ihrem Besitz zuschickten oder solche für den Herzog erwarben (Hardt 1690, S. 524). Im Auftrag des Herzogs verspricht von der Hardt, die Sammlung werde jedem, der daran zum allgemeinen Nutzen interessiert sei, zur Verfügung stehen, sei es durch Benutzung in Braunschweig, sei es durch Mitteilung des Inhalts (Hardt 1691, S. 40).

Die Motivation Rudolf Augusts bei dieser Sammeltätigkeit beschreibt von der Hardt zunächst als eine individuell-religiöse (Hardt 1691, S. 36f.). Der Herzog habe Schriften geschätzt, die eine heilsame Lehre verkündeten, statt sich in theologischer Polemik zu ergehen. Daher habe er die Kirchenväter in guten Ausgaben erworben und so intensiv studiert, dass er stets Sentenzen aus ihnen parat hatte. Sein Interesse habe sich alsbald auf die kleinen Schriften Luthers und anderer „Verkünder des Evangeliums“ verlagert, die ihm eine solche Befriedigung verschafften, dass er alle zu kennen bestrebt war. Die großbändigen Werkausgaben habe er aus zwei Gründen abgelehnt: Zum einen weil sie keinen verlässlichen, von Interpolationen freien Text boten, zum anderen, weil sie zur Mitnahme auf Reisen nicht geeignet waren. Rudolf August trage stets Schriften der Reformatoren als treue Begleiter bei sich, er sei „in jedem Winkel mit einem namhaften Büchlein“ („in omni angello cum nobili libello“, ebd., S. 37) anzutreffen. Damit zitiert von der Hardt eine Devise, die Ludwig Rudolf in vielen seiner Briefe anbrachte (Merzbacher 2015, S. 162f.), freilich vermehrt um das Wort nobilis. Im frühen Briefwechsel mit von der Hardt, der größtenteils um das Sammeln von Reformationsschriften kreist, stellt der Herzog seine Sammlung als ein Werk zur Wiederbelebung Luthers sowie als eine Quelle für Gottvertrauen in religiösen Konflikten dar (ebd., S. 186 u. 222f.).

Von der Hardt selbst argumentiert eher historisch, wenn er in der Einleitung zum ersten Band seines Katalogs der Reformationsschriften begründet, warum gerade die kleinen Druckschriften einen solchen Wert besitzen (Hardt 1690, S. 5–25). Die Reformation gehöre zu den bedeutendsten Vorgängen der Weltgeschichte, ihr Studium sei aber durch den Verlust zahlreicher wichtiger Quellen behindert. Als wichtigste Quellengattung benennt von der Hardt die kleinen Gelegenheitsschriften, denn sie seien das Medium, in dem sich die kirchenpolitischen Auseinandersetzungen maßgeblich abgespielt hätten. Wegen ihres unscheinbaren Äußeren und ihrer Anlassbezogenheit seien sie von den Zeitgenossen nicht in „öffentlichen Bibliotheken“ gesammelt worden, weshalb sie dort fehlten. Die posthum entstandenen Werkausgaben Luthers seien von den konfessionellen Streitigkeiten der Zeit beeinflusst und böten daher keinen verlässlichen Text. Die frühen Drucke seien als Quelle auch gegenüber den Handschriften zu bevorzugen, denn sie enthielten die von den Reformatoren nicht nur verfassten, sondern auch revidierten und zur Veröffentlichung freigegebenen Texte (ebd., S. 24f.). Von der Hardt weist auf eine Paradoxie der Reformationsüberlieferung hin, die darin besteht, dass die Lektüre und Sammlung dieser Texte entgegen dem Willen ihrer Autoren erfolge (ebd., S. 12–21). Er zitiert mehrere Äußerungen Luthers und auch Melanchthons, die den Wunsch enthalten, die eigenen Schriften möchten lieber zugrunde gehen, als dass sie die Gläubigen von der Bibellektüre abhalten. Was klingt wie eine Bescheidenheitsbekundung, war darauf ausgerichtet, die Autorität der kirchlichen Überlieferung zu eliminieren. Luther selbst beruft sich in der Vorrede zu seiner Werkausgabe auf Augustinus, der gegenüber Hieronymus beanspruchte, allein auf die Bibel statt auf die Schriften früherer christlicher Autoren zurückgreifen zu können (zit. ebd., S. 21). Diese Bedenken der Reformatoren zählen für von der Hardt aber keineswegs. Weil es nötig sei, die Geschichte der Reformation vollständig zu kennen, hätten die Nachfahren auch gegen den Willen der Reformatoren noch die kleinsten Schriften aufheben müssen (ebd., S. 20).

Dass sich von der Hardt auch in seiner Zeit als Universitätsbibliothekar für die Luthersammlung Rudolf Augusts interessierte, zeigt seine Rede über die Bibliotheca Rudolphea von 1703 (Hardt 1703). Aus Anlass der Übereignung der Sammlung aus den Privatbibliotheken in Braunschweig und Schloss Hedwigsburg stellt Hardt die monumenta der Literatur- und Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts vor, die in ihr enthalten sind. Er tut dies im Stile einer chronologischen Erzählung, die immer wieder auf die wichtigen Autoren und Schriften verweist.

Hermann von der Hardt wird somit zum Vordenker für die historisch motivierte Wiederentdeckung der Reformationsschriften, die aus seiner Sicht bislang völlig inadäquat behandelt worden waren. Es wäre demnach ganz in seinem Sinne gewesen, die überlieferten Drucke aus ihrem gewachsenen Kontext in den Sammelbänden einzelner Vorbesitzer zu lösen, weil nur so ihre historische Einordnung möglich ist. Das Ordnungsprinzip seines Katalogs der Reformationsschriften ist ein chronologisches. Demselben Ordnungsprinzip folgen die Helmstedter Lutherdrucke nach dem Katalog des späten 18. Jahrhunderts, der hierin aber die Anordnung beibehalten dürfte, die die Schriften schon zu Lebzeiten von der Hardts hatten. Das so entstandene Sammelbecken für Reformationsschriften war ganz nach dem Geschmack der Bibliothekare des 19. Jahrhunderts, die dort wertvolle Dubletten entnehmen und ausgelöste Schriften einsortieren konnten. Die Zusammensetzung und Entstehungsgeschichte der Sammlung Hardt kann daher genauer nur durch umfassende Untersuchungen vor allem im Bibliotheksarchiv der HAB, in der Korrespondenz Rudolf Augusts mit Hermann von der Hardt und anhand der Antiqua literarum monumenta von der Hardts geklärt werden.

Hartmut Beyer

Literatur:

Härtel 1986; Härtel 1999; Heinemann 1879; Katte 1996; Katte 2006; Lesser 2012; Merzbacher 2015; Mulsow 2010; Raabe 1983; Zimmermann 1891.