Luthers Löffel
Es gibt eine ganze Reihe von Esslöffeln, die mit Luther in Verbindung gebracht werden. Das hier präsentierte, mit einigen Gravuren versehene Exemplar besteht aus Feinsilber und ist partiell feuervergoldet (Mai 2016, o. P. [Löffel]). Es wurde in der wolfenbüttel-braunschweigischen fürstlichen Hofsammlung verwahrt und bereits in der Frühen Neuzeit als „Rarität von Luthero“ präsentiert (Uffenbach 1753, S. 535). Die Überlieferungsgeschichte ist weitgehend unbekannt.
Esslöffel übernahmen in der Frühen Neuzeit eine Reihe von Funktionen. Aus Materialien wie Jaspis, Koralle oder Serpentin hergestellte Bestecke wurden als apotropäische Instrumente genutzt, vergleichbar etwa einem Amulett oder Talisman. Wie die Funktion, die Löffel besaßen, mit der Dingbeschaffenheit zusammenhing, zeigt sich auch in anderen Kontexten: Esslöffel dienten besonders zur Aufnahme von Speisen der Kindheit und des Alters und so bot sich dieses Utensil aufgrund seiner materiellen Eigenart ferner an, um die häusliche Ökonomie und die damit verbundenen Normen zu repräsentieren. Entsprechend fanden sie schon früh als Paten- bzw. Hochzeitsgeschenk Verwendung. Eng verbunden mit der Beschaffenheit des Dings ist darüber hinaus die Deutung des Löffels als Zeichen für Friedfertigkeit bzw. Wehrunfähigkeit, ist doch die unbedarfte, uninformierte Nutzung dieses Utensils beispielsweise weniger risikoreich als der Einsatz von Messern und Gabeln.
Der Löffel konnte in mehrfacher Hinsicht ein Ding der Reformation werden: Er passte in die Idee der christlichen Friedfertigkeit, wie sie im „convivium“ in der Tradition des Abendmahls wurzelte. Für das protestantische Milieu war dabei bedeutsam, dass das gemeinsame Speisen durch die häufig in Martin Luthers Haus veranstalteten und durch die Überlieferung der Tischreden publik gemachten Gastmähler eine neue Bedeutungsdimension erhielt; mit dem Löffel konnte das Bild von Luther und seinen mit ihm in der Tischgemeinschaft verbundenen Mitstreitern in Erinnerung gerufen werden. Zugleich ließ sich mit dem Besteckteil die im 16. Jahrhundert stark mit der Reformation in Verbindung gebrachte Vorstellung des gottgefälligen familiären Zusammenlebens im ‚Ganzen Haus‘ (Otto Brunner) aufrufen.
Dieses Symbolprogramm zeichnet den Löffel unter anderen häufig gebrauchten Gegenständen des Alltags aus und machte ihn ganz besonders geeignet, Sammlungsobjekt des Haushalts Luthers zu werden. Da allerdings das Interesse an dieser ‚Kontaktreliquie‘ erst nach seinem Tod einsetzte, bedurfte es einiger argumentativer Kunstgriffe, die Verbindung zum Reformator plausibel zu machen: Bei einem faltbaren, sogenannten Reiselöffel kam es im späten 17. Jahrhundert zu Anstrengungen der besitzenden Familien, eine lückenlose Besitzgeschichte zu konstruieren, indem eine retrospektive Her- und Darstellung von Verwandtschaftsbezügen vorgenommen wurde (Abb. 1). Autorität erhielt die Geschichte ferner durch Betonung seines Werts als testamentarisch geschütztes Erbstück, das den üblichen frühneuzeitlichen Zirkulationsprozessen entzogen worden sei (Schlegel 1737, S. 528). Dass das Besteckteil zudem der Erzählung nach ein „Stückchen von einem Einhorn“ enthielt – es also wie andere magische Dinge apotropäisch wirken könnte – stand dem Bemühen um einen Echtheitsbeweis nicht entgegen, sondern passte im Sinne einer hagiographischen Lutherverehrung ins Bild und verstärkte dieses zugleich.
Deutlich schwieriger war es, anhand der Datumszeile dieser „Rarität von Luthero“ einen direkten Bezug zu Luther herzustellen (Abb. 2): Die bereits in der Literatur der Frühen Neuzeit anzutreffende Lesart, wonach dort 1557 stehe, gilt nach heutigen fototechnischen Analysen als sehr wahrscheinlich (Uffenbach 1753, S. 535). Mit dieser Datierung konnte die Entstehung des Besteckstücks zwar in einen Bezug zu wichtigen protestantischen Ereignissen gestellt werden, konkret etwa zum Wormser Religionsgespräch. Weniger plausibel war so aber eine konkrete Nutzung durch Luther, der bekanntlich bereits 1546 starb.
Diese Interpretation stellte nicht alle Löffelfreunde gleichermaßen zufrieden. Im Falle des Wolfenbütteler Bibliotheksdirektors Carl Philipp Christian Schönemann (1801–1855), der in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Datumszeile als 1537 las und so die Entstehungszeit des Löffel weiter vorverlegte, war es vermutlich der veränderte institutionelle museale Rahmen, der zu dieser Auffassung führte (Schönemann 1849, S. 70). Denn während in der Frühen Neuzeit das Setting der fürstlichen Sammlung zur kultischen Aufladung und damit zur Aufwertung der Dinge beitrug, wurde von einer als Behörde strukturierten Landesbibliothek, die eine Brücke zum Reformator schlagen wollte, eine größere Legitimierungsarbeit verlangt.
Elizabeth Harding