Luther im Zentrum der Un-Heilsgeschichte
Der anonyme Holzschnitt bildet die obere Hälfte eines Flugblatts, das darunter einen erklärenden Text in Versen bietet und im Kontext jener interkonfessionellen Polemik steht, welche die gegenreformatorische Politik des Würzburger Bischofs Julius von Echter (1545–1617) begleitete. Dies zeigt schon die Rede vom „Ketzerbaum“, der im Titel als vermeintlicher „Christenbaum“ bezeichnet wird und damit auf ein gleichnamiges Streitgedicht des lutherischen Pfarrers Alexander Utzinger (nachgewiesen 1573–1591) verweist (Utzinger 1588a). Steht bei diesem der Baum für das in Franken gefährdete Luthertum, so wendet der katholische Geistliche Abraham Nagel (nachgewiesen 1572–1591) dieses Bild ins Negative.
Dabei sind zwei Verständnisebenen zu unterscheiden: Ohne schriftliche Erläuterung lassen sich einige wenige Figuren identifizieren, die sich auch dem zeitgenössischen Betrachter erschlossen haben dürften: Am Fuße des Baumes erkennt man den Teufel und im Zentrum des gesamten Stichs den monströsen siebenköpfigen Luther (vgl. Kat. Nr. 22) (Burschel 2004), der den eigentlichen Stamm ausmacht und seine Ehefrau, die (ehemalige) Nonne Katharina von Bora (1499–1552), im Arm hält. Direkt über Luther findet man Philipp Melanchthon (1497–1560). Das sonstige Personal wird zum kleineren Teil in dem Begleitgedicht erwähnt; es besteht zum einen aus den unterschiedlichen vorlutherischen Ketzern von Kain bis Jan Hus und zum anderen aus den Protagonisten der auf Luther zurückgehenden protestantischen Denominationen (z. B. Calvin, Müntzer, Zwingli). Deren Zersplitterung bezeugt „Irthum und Ketzerei“, führt zum „Aufrür“ und trägt damit zur Fruchtlosigkeit des Baumes und damit der protestantischen Sache bei. Seine einzigen „Früchte“ sind „Sündt/ Schand/ Laster“, und deshalb ist er so schädlich, dass er am besten verbrannt wird.
Die Auflösung der Buchstabenchiffren für jede Figur findet sich erst in einem weiteren, offenbar zuvor erschienenen Werk Nagels, der Schüttlung Deß vermeinten Christenbaums […] vnnd Fortpflantzung deß Edlen Lorberbaums (ebenfalls 1589). Dort kann man nachlesen, dass etwa die sich bekämpfenden, mit G und H bezeichneten Männer über Melanchthon die „Interimisten“ bzw. die „Illyricaner“ (Flacianer) repräsentieren (Nagel 1589, Bl. C3 r–C3 v). Erst wenn man diese ausführliche Streitschrift einbezieht, erschließt sich der genaue Gehalt des Holzschnitts. Dieser erweist sich als bewusste Popularisierung der in der Schüttlung vorgenommenen Polemik. Nagel hat „den einfältigen gemeinen Leyen zu bestem den gantzen Ketzerbaum […] auff ein Stock reissen/ schneiden vnd auch auff ein Patent hieher [trucken] lassen“ (ebd., Bl. B3 v). Der Erfolg des illustrierten Flugblatts kann jedoch bezweifelt werden, war es doch offenbar Nagels Intimfeind Utzinger unbekannt (Utzinger 1590, Bl. B4 v–C1 r).
Bemerkenswert bleibt die Tatsache, dass Nagels Publizistik in Buchform ebenso wie im illustrierten Flugblatt das Modell des Baumes verwendet. Insbesondere letzteres spekuliert wohl auf die Vertrautheit der zeitgenössischen Betrachter mit dem weitverbreiteten Konzept des Familienstammbaums, der Verwandtschaft und Abstammung abbildet (Bauer 2013, bes. S. 53–57), worauf hier die Anwesenheit Katharina von Boras und einige Verse anspielen. Als weiteres Vorbild kommen die spätmittelalterlichen Ordensstammbäume in Betracht (Donadieu-Rigaut 2005, S. 241–278), gerade weil sie von biologischer Verwandtschaft absehen. Überdies sind Nagels Werke lediglich Einzelglieder in einer Kette von baumbasierten Polemiken. Den Anfang machten Utzingers Christenbawm im Franckenland (Utzinger 1588a) und sein Lorberbawm im Franckenland (Utzinger 1588b, Bl. G2 v–H4 v); darauf reagierten etwa der Würzburger Botenmeister Adam Kahl (1539–1594) mit einer handschriftlichen pro-katholischen Umdeutung des Christenbaums (Fätkenheuer 2004, S. 83f.) sowie Nagels zwei Streitschriften, auf die unter anderem erneut Utzinger (Utzinger 1590) antwortete (vgl. Schwitalla 2007).
Die hier sichtbare Attraktivität des Baumes als Bildspender hat drei Gründe (Bauer 2013, z. B. S. 10 u. 45): Erstens kann seit den hochmittelalterlichen Wurzel Jesse-Darstellungen die Wachstumsrichtung eines Baumes von der Wurzel in die Krone den Zeitverlauf abbilden. Dies gilt auch für den Ketzerbaum, der vom ersten A für den Teufel bis zum zweiten Z für die Leugner der Hölle („Höllstürmer“) reicht (Nagel 1589, Bl. C3 r u. O4 v) und damit die Un-Heilsgeschichte des Ketzertums ins Bild setzt. Zweitens erlaubt die fortgesetzte Spreizung des Astwerks die Verwendung des Baumschemas für Zwecke der Wissensordnung. Auf diese Weise wird hier die Aufspaltung des Protestantismus in zahlreiche widerstreitende Glaubensgemeinschaften nachgezeichnet. Drittens verweist jeder in christlichem Kontext verwendete Baum auf einen der zahlreichen biblischen Bäume, und in der Tat leitet Nagel seinen Ketzerbaum unmittelbar vom versucherischen „Baum der Erkäntnuß“ im Paradies ab (Nagel 1589, Bl. C4 r–C4 v).
Die Leistungsfähigkeit einer baumbasierten Bildsemantik gerade im Bereich frühneuzeitlicher Konfessionskonflikte, die insbesondere wohl auch aufgrund des letztgenannten Aspekts gegeben war, belegen auch weitere druckgraphische Darstellungen aus dem 17. und 18. Jahrhundert: Ein Kupferstich aus dem Jahr 1623 (Abb. 1) dreht die Aussage des ausgestellten Holzschnitts schlicht im lutherischen Sinne um (Cramer 1623).
In einem Flugblatt aus lutherischer Sicht von 1618 (Harms/Schilling/Wang 1997, S. 248) wird Luther als Jesse dargestellt, dem der Baum der christlichen Tugenden entspringt (Abb. 2).
Daran lehnt sich ein Augsburger Stich aus dem frühen 18. Jahrhundert (Abb. 3) an, zu dem wiederum ein direktes katholisches Gegenstück (Abb. 4) existiert (zu beidem Harms 1977, S. 42).
Volker Bauer
Literatur:
Bauer 2013; Burschel 2004; Cramer 1623; Donadieu-Rigaut 2005; Fätkenheuer 2004; Harms 1977; Harms/Schilling/Wang 1997; Nagel 1589; Schwitalla 2007; Utzinger 1588a; Utzinger 1588b; Utzinger 1590.