Bibelübersetzung als Akkord der Sprachen

Ein Sendbrief vom Dolmetschen

Luther setzte seinen Sendbrieff während des Augsburger Reichstages 1530 auf, bei dem die Protestanten mit der von Philipp Melanchthon (1497–1560) ausgearbeiteten Augsburgischen Konfession eine Art Manifest ihrer Glaubenslehre vorlegten und gegen die altgläubige Kritik, angeführt von Johannes Eck (1486–1543), verteidigten. Als Geächteter konnte Luther diesen Disput nur auf der Veste Coburg verfolgen, wo er erfuhr, dass sein reformationstheologischer, genauer: soteriologischer Grundsatz sola fide und sein kritisches Verhältnis zu menschlichen Satisfaktions- und Verdienstleistungen als Heilsgaranten (Werkgerechtigkeit) wieder im Zentrum der kontroverstheologischen Debatte standen. Mit dem Sendbrieff, der erstmals noch im September 1530 in Nürnberg (HAB: A: 151.29 Theol. [11]) und kurz darauf etwas sorgfältiger gedruckt mehrfach in Wittenberg erschien, griff Luther öffentlichkeitswirksam in den Streit ein. „Allein“ – das ist tatsächlich Anlass und Ansatzpunkt der lutherischen Flugschrift: „Allein (durch den Glauben)“ nämlich war Luthers Schlüsselwort in seiner Übersetzung von Paulus’ Röm 3,28 seit seiner ersten Übertragung des Neuen Testaments im sogenannten Septembertestament von 1522 (HAB: Bibel‑S. 4° 257): „So halten wyrs nu, das der mensch gerechtfertiget werde, on zu thun der werck des gesetzs, alleyn durch den glawben“ (WA DB 7, S. 38). In der Vulgata steht hier „arbitramur enim iustificari hominem per fidem sine operibus legis“, und Luther zitierte: „Arbitramur hominem iustificari ex fide absque operibus legis“. Daran knüpfte die katholische Kritik der Luther-Übersetzung dieser Bibelstelle an: Bei Paulus sei ein „Solum/ allein“ nicht zu finden, es sei Zutat und Erfindung Luthers. Der räumte das ein, er habe aber so übersetzt, weil es

die meinung des Texts jnn sich hat/ vnd wo mans wil klar vnd gewaltiglich verdeudschen/ so gehöret es hinein/ […] Das ist aber die art vnser deudschen sprache/ weñ sich ein rede begibt/ von zweien dingen/ der man eins bekennet/ vnd das ander verneinet/ so braucht man des worts solum (allein) neben dem wort (nicht odder kein) Als weñ man sagt/ Der Bawr bringt allein korn vnd kein gelt [… weitere Beispiele] Jnn diesen reden allen/ obs gleich die Lateinische odder Griechische sprache nicht thut/ so thuts doch die Deudsche/ vnd ist jhr art/ […] vnd hilfft hie das wort (Allein) dem wort (kein) so viel/ das es ein völlige Deudsche klare rede wird/ denn man mus nicht die buchstaben jnn der Lateinischen sprachen fragen/ wie man sol Deudsch reden/ […] Sondern man mus die mutter jhm hause/ die kinder auff der gassen/ den gemeinen man auff dem marckt drümb fragen/ vnd den selbigen auff das maul sehen/ wie sie reden/ vnd darnach dolmetschen/ so verstehen sie es denn/ vnd mercken/ das man Deudsch mit jhn redet (Luther 1530a, Bl. Bij v–Biij r).

Das „allein“ sei zwingend notwendig gewesen, denn „die Lateinischen buchstaben hindern aus der massen seer/ gut deudsch zu reden“ (ebd., Bl. Biij v), zudem berühre es das „heubtstück Christlicher lere“ (ebd., Bl. Cij r). Um dieses richtig zu geben, argumentiert Luther mit dem Sinn (der „meinung“) des Bibeltextes und der Idiomatik der deutschen Sprache, die gegen alle Einwände der „buchstabilisten“ (ebd., Bl. Biij v) gewisse Freiheiten in der Übersetzung erfordere, solle diese sinngetreu und dabei verständlich bleiben. Mehrfach hat Luther betont, dass er „rein vnd klar deudsch“ schreiben wolle (ebd., Bl. Bij r), „das wyr deutliche vnd yderman verstendliche rede geben, mit vnuerfelschtem synn vnd verstand“ (WA DB 10.1, S. 6). Die Vulgata hingegen zeige auch unzuverlässige Übersetzungen und so sei seine, Luthers, Bibelübersetzung „liechter vnd gewisser […] an vielen ortten denn die latinische“; mit ihr habe die deutsche Sprache eine bessere, originalgetreuere Bibel als die lateinische (WA DB 8, S. 32). In den Summarien vber die Psalmen/ Vnd vrsachen des dolmetschens (1531/33) (Abb. 1) geht Luther etliche Beispiele durch, wo eine wörtliche Übersetzung des hebräischen Psalters im Deutschen keinen verständlichen Text ergeben hätte. In diesen Fällen habe er sich an „die regel gehalten“, dass

nicht der sinn den worten, sondern die wort dem sinn dienen und folgen sollen. […] Was ists aber, die wort on not so steiff und strenge halten, daraus man doch nichts verstehen kan? Wer Deudsch reden wil, der mus nicht der Ebreischen wort weise füren, Sondern mus darauff sehen, wenn er den Ebreischen man verstehet, das er den sinn fasse und dencke also: Lieber, wie redet der Deudsche man jnn solchem fall? Wenn er nu die Deutsche wort hat, die hiezu dienen, so lasse er die Ebreischen wort faren und sprech frey den sinn eraus auffs beste Deudsch, so er kan (WA 38, S. 11).

Abb. 1
Abb. 1 Martin Luther: Summarien vber die Psalmen/ Vnd vrsachen des dolmetschens. Mart. Luther, Wittenberg: Hans Lufft 1531/1533, Titelblatt. HAB: H: A 35.12° Helmst. (3)

Bleibt es dabei, dass Luthers vorrangige Sprachleistung darin bestanden habe, dem Volk „auf das Maul“ zu schauen? Und er selbst? Ein Meister und Genie der sinngetreuen Übersetzung, der den lebendig machenden Geist dem tötenden Buchstaben (vgl. 2 Kor 3,6) entrissen hat?

In seinem nur schwer auszulotenden, rätselhaften Text Die Aufgabe des Übersetzers kehrte Walter Benjamin (1892–1940) diese Hermeneutik um und verabschiedete die „Sinn“-Kategorie als nicht wirklich wesentlich für die Übersetzung. Anstatt den vermeintlichen Sinn (Aussage, Gehalt, Mitteilung) des Originals, das Was des Textes reproduzieren zu wollen, sollte die Übersetzung bis ins Detail nicht nur die Meinung des Originals, sondern vor allem die „Art des Meinens“ „sich anbilden“, das Wie des Ausdrucks, das sich vor allem in einer befremdenden „Wörtlichkeit“ der Übersetzung Zugänglichkeit verschaffe (Benjamin 1923, S. 14 u. 18). Gerade die Fremdheit und Alterität der Ausgangssprache müsse sich, so Benjamin, in der Übersetzung wiederfinden und durchscheinen, dann ergänzen beide Sprachen einander – das Original lebt in der Übersetzung fort, die Zielsprache der Übersetzung „wächst“ am Original über vorfindliche Grenzen hinaus –, dann harmonieren beide und lassen jene „reine“ wahre Sprache anklingen, die mehr ist als sinngemäße Entsprechung und die in keiner einzigen natürlichen Einzelsprache verwirklicht ist, sondern als Ursprung und Telos das nicht mehr mitteilbare und „in allen Sprachen Gemeinte“ evoziert (Benjamin 1923, S. 12f. u. 19, vgl. S. 12). Dann zeigt sich „die an der Wortoberfläche nur erahnbare Einheit alles menschlichen Sprechens“, der „stumme Tiefsinn der Worte“ (Rosenzweig 1926, S. 46), dann wird die „Affinität zwischen den Sprachen bemerkbar “, auf eine „hindeutende, ankündigende, beinahe prophetische Art und Weise“ (Derrida 1997, S. 143).

Diese eschatologische Idee von Sprache kennzeichnet in eigentümlicher Weise das jüdische Sprachdenken (vor allem der Kabbala), für das kein Jota in der Thora geändert werden durfte. Buchstabe, Wort, Name in der hebräischen Bibel waren sakrosankt. Der buchstaben- und wortgestützte „magische Materialismus“ der spezifisch jüdischen Sprach- und Schriftreflexion war der christlich-griechischen Pneumatologie eigentlich fremd und entwickelte eine ganz eigene, jedenfalls unbildliche „magische Zeichenbindung“ (Assmann 1994, S. 24). Ein Extremfall ist vielleicht – Jacques Derrida (1930 – 2004) hat an ihn erinnert – der Disput zwischen Franz Rosenzweig (1886–1929) und Gershom Scholem (1897–1982) im Jahr 1926. Letzterer war dem zionistischen Bestreben zu Anfang des 20. Jahrhunderts (etwa bei Ben Jehuda), die längst abgestorbene, heilige Sprache Hebräisch zur modernen Amts‑, Verkehrs- und Alltagssprache im angestrebten Staat Israel zu machen, mit äußerster Abwehr begegnet. Für Scholem erniedrigte dies „eine Sprache zum Kommunikationsmittel, die ursprünglich oder wesentlich zu ganz anderem bestimmt ist als zur Information“ (Derrida 2014, S. 21). Er befürchtete eine „rächende Rückkehr der heiligen Sprache, deren religiöse Gewalt gegen ihre Sprecher, gegen ihre Profanierer ausbrechen wird“. Er erkannte in diesem Vorhaben nichts als einen dämonischen Übermut, die heiligen Namen wieder zu beleben: Zauberlehrlinge, die blind über dem Abgrund wandeln, der sich nicht beherrschen, zähmen, instrumentalisieren oder säkularisieren lasse (ebd., S. 22 u. 28f.). Bei Benjamin – stärker noch in seiner frühen Studie Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (Benjamin 1916) – und Rosenzweig klingt diese eschatologische Sprachidee an, aber nicht aus einer Schuld- und Gerichts‑, sondern aus einer Versöhnungs- und Erlösungsperspektive. Alles Sprechen ist schon übersetzen (Rosenzweig 1926, S. 5), aus einem Idiom ins andere, und Übersetzen heißt bei Benjamin „Überleben“ des Ausgangstextes (Benjamin 1923, S. 10; vgl. Derrida 1997, S. 134 ff.). Was anderes als die jahrhunderte‑, jahrtausendealte jüdische Exil- und Vertreibungserfahrung drückt sich hier aus? Und doch behält auch bei Benjamin wie Rosenzweig Luthers Übersetzungsleistung ihren allgemein zugebilligten hohen Rang (Benjamin 1923, S. 16; Rosenzweig 1926, S. 8 ff.). Wie geht das zusammen?

Wohl indem Luther zunächst die monopolistische Geltung der Vulgata in der alten Kirche aufgab und die hebräischen und griechischen Urtexte heranzog. Sodann, weil es ihm (und seinen Übersetzungshelfern Melanchthon, Matthäus Aurogallus, Johannes Bugenhagen, Casper Cruciger, Justus Jonas, Georg Rörer u. a.) keineswegs nur obenhin um Verständlichkeit zu tun war, und er zeitlebens seine Bibelübersetzung aufs Sorgfältigste bearbeitete, korrigierte, redigierte:

Vnd ist vns wol offt begegenet/ das wir xiiij. tage/ drey/ vier wochen/ habē ein einiges wort gesucht vnd gefragt/ habens dennoch zu weilen nicht funden. Jm Hiob erbeiten wir also/ M. Philipps/ Aurogallus vnd ich/ das wir jnn vier tagen zu weilen kaum drey zeilen kundten fertigen. Lieber/ nu es verdeudscht vnd bereit ist/ kans ein jeder lesen vnd meistern/ Leufft einer itzt mit den augen durch drey odder vier bletter/ vnd stösst nicht ein mal an/ wird aber nicht gewar/ welche wacken vnd klötze da gelegen sind/ da er jtzt vber hin gehet/ wie vber ein gehoffelt [gehobelt] bret/ da wir haben müst schwitzen vnd vns engsten (Luther 1530a, Bl. Bij r).

Zwar gebe es Fälle, wo man nicht eng am Original bleiben könnte, wenn ein sinnvoller deutscher Text herauskommen sollte: „Darümb mus ich hie die buchstaben faren lassen/ vñ forschen/ wie der Deudsche man solchs redet“ (ebd., Bl. Biv r). Doch auf der anderen Seite „hab ich widderümb/ nicht allzu frey die buchstaben faren lassen/ Sondern mit grossen sorgen/ sampt meinen gehülffen drauff gesehen/ das/ wo etwa an einem wort gelegen ist/ hab ichs nach den buchstaben behalten/ vnd bin nicht so frey dauon gangen“ (ebd., Bl. Ci v). Dieser Anspruch, zuweilen ganz eng und wörtlich am Ausgangstext zu bleiben, wiederholt sich in den Summarien vber die Psalmen: „Widderumb haben wir zu weilen auch stracks den worten nach gedolmetscht, ob wirs wol hetten anders und deudlicher künnen geben, Darumb, das an den selben worten etwas gelegen ist“. Hätte man bestimmte Stellen frei und nach herkömmlicher deutscher Phraseologie übersetzt, wäre die Übersetzung „zu schwach“ geworden, gäbe sie „nicht den feinen reichen sinn, welcher jnn dem Ebreischen ist“, wieder. „Darumb müssen wir zu ehren solcher lere und zu trost unsers gewissens, solche wort behalten, gewonen und also der Ebreischen sprachen raum lassen, wo sie es besser macht, denn vnser Deudsche thun kan“ (WA 38, S. 13). In einem Brief an Wenzeslaus Linck (1483–1547) schrieb Luther am 14. Juni 1528:

Nos iam in prophetis vernacule donandis sudamus. Deus, quantum et quam molestum opus, Hebraicos scriptores cogere Germanice loqui, qui resistunt, quam suam Hebraicitatem relinquere nolunt, et barbariem Germanicam incitari, tanquam si philomela cuculum cogatur, deserta elegantissima melodia, unisonam illius vocem detestans, incitari (WA BR 4, S. 484).

Wir arbeiten jetzt in den Propheten, sie zu verdeutschen. Ach Gott, was für ein großes und verdrießliches Werk ist es, die hebräischen Schreiber zu zwingen, Deutsch zu reden, wie sträuben sie sich und wollen ihre hebräische Art nicht aufgeben und dem groben Deutsch nachfolgen, wie wenn eine Nachtigall gezwungen würde, dem eintönigen Kuckucksgesang nachzusingen und ihre eigene liebliche Melodie dahinzugeben.

In Luthers Vorrede auf den Psalter (1524) hieß es schon ganz ähnlich:

ES ist die Ebreische sprache so reiche, das keyne sprach sie mag gnugsam erlangen. Denn sie hat viel wörter die da, singen, loben, preysen, ehren, frewen, betrüben etc. heyssen, da wyr kaum eynes haben. Vnd sonderlich ynn göttlichen heyligen sachen ist sie reich mit worten, das sie wol zehen namen hat, da sie Gott mit nennet, da wyr nicht mehr haben denn das eynige wort, Gott, das sie wol billich eyn heylige sprache heyssen mag. Der halben keyne verdolmetschung so frey gehen kan, als ym Ebreischen selbs lautet, on was noch ist der verblümeten wort, die man figuras nennet, darynnen sie auch alle zungen vbertrifft (WA DB 10.1, S. 94).

Gott habe „seyne schrifft nicht umb sonst alleyn ynn die zwo sprachen schreiben lassen, das allte testament ynn die Ebreische, das new ynn die Kriechische“, mahnte Luther auch in seiner Flugschrift An die Radherrn aller stedte deutsches lands: das sie Christliche schulen auffrichten vnd hallten sollen (1524).

Und last vns das gesagt seyn, Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten on die sprachen. […] Ja wo wyrs versehen, das wyr (da Gott fur sey) die sprachen faren lassen, so werden wir nicht allein das Euangelion verlieren, sondern wird auch endlich dahyn geratten, das wir wider lateinisch noch deutsch recht reden odder schreyben künden (WA 15, S. 38).

Viele der früheren Ausleger hätten die Heiligen Sprachen nicht oder nicht gut genug gekannt, und selbst wo sie die Aussagen einigermaßen richtig trafen, „sind sie doch der sachen nicht gewiss gewesen“, tappten „wie eyn blinder an der wand“ und brachten „offt ungewisse, unebene und unzeyttige sprache“ vor (ebd., S. 39f.).

Wenn Sprache eine in sich und als Ganzes eigene Realität, eine „dynamis, eine umhüllte Virtualität, eine Potentialität“ ist (Derrida 2014, S. 61), dann wird sie eine rationalistisch-instrumentalistische Sprachauffassung mit all ihren Binaritäten von Form und Inhalt, Buchstabe und Sinn, Subjekt und Objekt, Geist und Materie notwendig verfehlen und am Ende auch Gott und das menschliche Wort an Gott verstummen lassen (ebd., S. 81). Luthers Übersetzungssprache aber geht einher in einer ebenso berstenden wie einfühlsamen Kraft, in Anruf, Aufruf, Vergegenwärtigung – und das Wort ist Fleisch geworden. Zugleich ist ihm offenbar „das Wunder der Vermählung der beiden Sprachgeister“ gelungen (Rosenzweig 1926, S. 18), und es öffnet sich das Tor zum Unsagbaren, Numinosen, unaussprechlich wie der Name Gottes YHWH. „Der Akkord der Sprachen“ (Derrida 1997, S. 160), der in der Übersetzung jene „reine Sprache“ Benjamins zum Klingen bringt, ruft hier das Gotteswort herauf: „gewaltiglich“ und doch angewiesen auf menschliches Antworten, denn es stirbt und vergeht, wenn es nicht angeeignet wird, im Glauben. Selbst bei Leuten, die Luthers Bekenntnis, ja der Religion überhaupt fernstehen, hat seine Sprache die Wirkung einer heiligen Dichtung, „allein“ in Anrede und Affizierung.

Andreas Herz

Literatur:

Luther 1968; Assmann 1994; Benjamin 1916; Benjamin 1923; Besch 2000; Beutel 2005; Bischoff 1965; Derrida 2014; Leppin 2014; Rödel 2009.