Deutscher Sprachheld Luther

Tischreden Luthers. Von Sprachen

Spätestens mit der Eislebener Leichenpredigt auf Martin Luther von Justus Jonas (1493–1555) wird die überragende sprachgeschichtliche Bedeutung des Reformators zu einem zentralen Bezugspunkt der Luther-Rezeption: Inmitten der von vielen Zeitgenossen beklagten Verwahrlosung und dem Mangel an Regulierung habe Luther eine beispiellose Übersetzungsleistung vollbracht, wie derer kein Gelehrter zu Paris, Löwen oder wo auch immer fähig gewesen wäre, selbst „wenn man alle Papisten zusamen schmeltzte“. Denn Luther „war ein trefflicher gewaltiger Redener/ Jtem/ ein vberaus gewaltiger Dolmetzscher/ der gantzen Bibel/ […] er hat die Deudsche sprach wider recht herfur gebracht/ das man nu[n] wider kan recht deudsch reden und schreiben“ (Jonas 1546, Bl. [Aiv]r u. [Aiv]v). Zum Sprachvater erhob ihn kaum zwei Jahrzehnte später Johann Walther (1496–1570) in seinem Newen Geistlichen Lied von … Doctore Martino Luthero (1564):

Die Deutsche Sprach nach rechter art hat Er auffs new polieret, So klar, verstendlich, rein vnd zart, wie Deutscher Sprach gebüret: Sölchs alle die Gottfürchtig sein mit Gottes lob bekennen, den Luther Deutscher Sprach gemein als jhren Vater nennen (Wackernagel 1864–1877, Bd. 3, S. 192f.).

Ähnlich emphatisch leitete zur gleichen Zeit Johannes Aurifaber (1519–1575) die von ihm – nicht ohne Manipulationen – postum herausgegebenen Tischreden Luthers unter anderem mit den Worten ein:

Denn solche Wolthaten hat vns Gott durch D. M. Luthern erzeiget/ Das er erstlich die Bibel oder die heilige Schrifft/ so zuuorn vnter der Banck gelegen/ vnd gar voller Staubs gewesen/ wider herfür gezogen/ vnd aus dem Latein/ ja ex ipsis fontibus, oder Hebraischen Sprachen/ gantz klerlich vnd verstendlich ins Deutsche gebracht/ das sie von jedermenniglich/ Jung vnd Alt/ Reich vnd Arm/ Geistlichen vnd Leien/ nū kan gelesen vnd verstanden werden/ Vnd jtzt von den Gnaden Gottes/ ein Hausvater seinem Weibe/ Kindern vnd Gesinde/ teglich die h. Schrifft in seinem Hause lesen mag/ vnd sie von Gott vnd seinem warhafftigen Erkentnis vnd Gottesdienste vnterweisen (Aurifaber 1566, Bl. [ )(vj ]r).

Luther selbst forderte, man solle „sich gewehnen zu guten/ rechtschaffenen/ vernemlichen worten/ die im gemeinen brauch sind/ vnd ein ding eigentlich vnd verstendlich anzeigen vnd geben.“ (Aurifaber 1566, Bl. 576 r; vgl. Bl. 577 r)

Aus diesem Anspruch und seiner Umsetzung speiste sich in wechselnden Konjunkturen das Bild des unvergleichlichen Sprachschöpfers bis ins nationaltrunkene späte 19. und frühe 20. Jahrhundert hinein, als Luther „wie niemand vor oder nach ihm“ (Kluge 1888, S. 34) zum „Schöpfer der neuhochdeutschen Schriftsprache“ erklärt und auch gleich als „wahrer und größter Apostel der Deutschen“, der die „Grundfeste deutschen Volkstums“ gelegt habe, kanonisiert wurde (Zeißig 1917, S. 15; Zschech 1883, S. 3). Bekannt ist, dass Jacob Grimm (1785–1863) die neuhochdeutsche Schriftsprache einmal einen „protestantischen dialect“ genannt hat, wovon er später wieder abrückte (Wolf 1996, S. 9). Doch bereits Luthers Zeitgenossen, Schreibmeister und Grammatiker wie Fabian Frangk (um 1489 – nach 1538) und Valentin Ickelsamer (um 1500 – um 1537) verbanden sein sprachschöpferisches Ingenium ex- und implizit aufs Engste mit dem Großwerk der Reformation und deren theologischen Positionen und Implikationen wie dem Laienpriestertum oder dem Schriftprinzip (sola scriptura). Luthers Sprache erschien dabei neben jener der kaiserlichen Kanzlei Maximilians I. als die „emendireste vnnd reiniste“ (Frangk 1531, Bl. Jiiij v) – eine Kombination zweier Normautoritäten, die sich bis ins 17. Jahrhundert durchhalten wird. Johannes Clajus (1535–1592), der eine durchgehend an Luthers Bibelübersetzung und deutschen Schriften orientierte Grammatik vorlegte (Abb. 1) und in zahlreichen Auflagen unter die Leute brachte, lässt ihn nicht nur zum Meister der Erkenntnis der geistlichen und notwendigen Heilswahrheiten, sondern auch der vollkommenen Beherrschung der deutschen Sprache werden: „Quòd videlicet præter cognitionem rerum Sacrarum & ad salutem nostram pertinentium, quæ in libris Lutheri planißimè & plenißimè explicantur, disci potest ex ijdem libris etiam perfecta & absoluta linguæ Germanicae cognitio“ (Clajus 1578, Bl. ) (4 v). Einheimische wie Auswärtige könnten daraus nützliche Unterweisung ziehen. Wie sich der Heilige Geist Moses und der Propheten in hebräischer und der Apostel in griechischer Sprache, so habe er sich im Deutschen Luthers als seines Werkzeugs bedient – wie anders wäre es sonst möglich gewesen, dass hier ein Mensch so ungemein rein, eigentümlich und zierlich Deutsch gesprochen habe:

[…] quàm Spiritus Sancti per hominem locuti agnosco, & planè in hac sum sententia, Spiritum Sanctum qui per Mosen cæterosq; Prophetas purè Ebraicè, & per Apostolos Græcè locutus est, etiam benè Germanicè locutum esse per electum suum organon Lutherum. Absq; hoc enim esset, fieri non potuisset, vt vnus homo tàm purè, tàm propriè, tàm eleganter Germanicè loqueretur […] (Clajus 1578, Bl. )(4 v).

Abb. 1
Abb. 1 Johannes Clajus: Grammatica Germanicae lingvae […]. Ex biblis Lvtheri germanicis et aliis eivs libris collecta, Leipzig: Rambau 1578, Titelblatt. HAB: H: P 929.8° Helmst.

Wie Clajus’ deutsche Grammatik, die allerdings noch lateinisch geschrieben ist und in vielen Stücken der lateinischen Tradition folgt, erhebt auch Ickelsamers Teutsche Grammatica (um 1535) den Anspruch, der genuinen Idiomatik des Deutschen nachzugehen (Abb. 2).

Sie will den „rechten brauch in der rede“ erfassen (Ickelsamer 1535, Bl. Aij rf.), ähnlich wie Luther, der etwa im Sendbrief vom Dolmetschen (1530) oder in den Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens (1531–1533) der Idiomatik des Deutschen und der Verständlichkeit des Bibeltextes zuliebe im Zweifelsfalle die wörtliche Übersetzung fahren und die Worte dem Sinn folgen lassen wollte (Luther 1531–1533, bes. S. 11; Luther 1530). Ickelsamer, der für seine Parteinahme zugunsten der aufständischen Bauern den Preis eines unsteten Lebens entrichten musste, will zuerst einmal breite Volksschichten alphabetisieren. In der ungeheuren Expansion des Buchmarkts und der Leseöffentlichkeit im 16. Jahrhundert, die energisch befeuert wurde von der Reformation im Zusammenspiel mit den Bedürfnissen einer schriftlichen Fernkommunikation, die auf diesem soziokulturellen Niveau nach einem überlandschaftlichen Sprachausgleich und einem regulierten schriftsprachlichen Standard verlangte – in dieser Expansion spielten Sprachlehrer wie Ickelsamer eine bedeutende Rolle. Lesen ist „ain herrliche gab Gottes“, die „ain holtzhawer/ ain hyrdt auff dem velde/ vn[d] ain yeder in seiner arbait“ erlernen kann und soll (Ickelsamer 1535, Bl. Aiiij r). Obwohl Ickelsamer in der Causa Andreas Bodenstein, gen. Karlstadt (1486–1541) auf bleibende Distanz zu Luther ging, vermeinen wir fast Luther zu hören, wenn Ickelsamer überzeugt ist, dass „ain ainfältiger gotsförchtiger/ gantz leichtlich den rechten verstand/ zu sein selbs vnd der andern besserung/ von Got überkom[m]et“ (Ickelsamer 1535, Bl. Av r). Demgegenüber sei die deutsche Sprache „so gar verwüstet vnd verderbet“. Gehe man aber besonnen und bedächtig mit ihr um, setze sauber die gehörigen Buchstaben, so lerne man aus den rechten Buchstaben auch den „rechten verstand“ des Wortes (Ickelsamer 1535, Bl. Biiij r u. Cviij r). Hier scheint Luthers Aufwertung des sensus litteralis der Bibel gegenüber der allegorischen und tropologischen Auslegung mühelos mit der Betonung des richtigen Schreibens in seiner Bedeutung für Sprachverständnis und Erkenntnis der Sachen zu koinzidieren. Richtige Schreibung öffnet als solche den Zugang zum Sinn oder „rechten verstand“ des Wortes, und der „rechte Verstand“ des Bibelwortes ist für Luther der einfache sensus litteralis, denn der „literalis sensus der thuts/ da ist leben/ da ist krafft/ lere vnd kunst innen“ (Aurifaber 1566, Bl. 510 r). Ist nach Luther die Bibel „das Buch das alle Weisen vnd Klugen zu Narren Machet/ vnd allein von den Albern vnd Einfeltigen kan verstanden werden“ (Aurifaber 1566, Bl. 13 r), dann sind diejenigen „die besten Prediger/ die da den gemeinen Man vnd die Jugent auff das einfeltigste leren/ on eine subtilitet vn[d] weitleuffigkeit/ gleich wie auch Christus das Volck durch grobe gleichnis lerete“ (Aurifaber 1566, Bl. 22 v).

Abb. 2
Abb. 2 Valentin Ickelsamer: Teutsche Grammatica, darauß ainer von jm selbs mag lesen lernen […], o. O. u. J. [um 1535], Titelblatt. HAB: A: 101.24 Rhet. (3)

Luther selbst nahm eine dezidiert sprachschöpferische Leistung nicht für sich in Anspruch, folgt man einer häufig zitierten Stelle aus seinen Tischreden:

Jch habe keine gewisse/ sonderliche/ eigene Sprache im Deutschen/ sondern brauche der gemeinen Deutschen Sprache/ das mich beide/ Ober vnd Niderlender verstehen mögen. Jch rede nach der Sechsischen Cantzeley/ welcher nachfolgen alle Fürsten vn[d] Könige im Deutschland/ Alle Reichstedte/ Fürsten/ Höfe/ schreiben nach der Sechsischen vnd vnsers Fürsten Cantzeley/ Darumb ists auch die gemeinste Deutsche Sprache. Keiser Maximilian/ vnd Churf. Fride[rich der Weise] H[erzog] zu Sachs[en] etc. haben im Römischen Reich die Deutschen Sprachen also in eine gewisse Sprache gezogen (Aurifaber 1566, Bl. 578 v).

Damit bettete sich Luther selbst in Ausgleichs- und Standardisierungsprozesse ein, die im 16. Jahrhundert mit überregionalen Schreibdialekten und deren Verflechtung, Kanzlei- und Druckersprachen oder sprachlandschaftlichen Prioritäten bereits in vollem Gange waren oder im Hinblick auf die Grammatikalisierung des Deutschen, wie gezeigt, kräftig einzusetzen begannen (Josten 1976). Im 17. Jahrhundert, das für die Regulierung des Neuhochdeutschen auf allen Ebenen des Sprachsystems so eminent bedeutend war, schwindet zudem die Engführung sprachreformerischer Programmatik mit reformationstheologischer Argumentation, ohne dass sich die Konklusion von Sprach- und Glaubenserneuerung ganz verloren hätte. Bei Johann Valentin Andreae (1586–1654) etwa erscheint Luther als Werkzeug Gottes, das erstmals dessen heiliges Wort „in vnser Teutsche Mutter Sprach so klar vnd deutlich/ daß es für eine Außlegung vnd Erklärung zuhalten“ übertragen habe (Andreae 1647, Bl. [*3 v]). Carl Gustav von Hille (vor 1590–1647) stellte die Fruchtbringende Gesellschaft (1617–1680, 890 Mitglieder) und ihre Spracharbeit in den Zusammenhang von Luther und Reformation:

Es ist aber sonderlich zu beobachten/ daß wolberührte hochberühmte Gesellschaft ihren Anfang genommen/ als eben vor hundert Jahren/ das seligmachende Liecht des Heiligen Evangelii hervorgeleuchtet/ und die H. Schrift unter der Banck hervorgezogen/ in unsere Teutsche Sprache wolvernemlich/ und so viel eines Mannes Fleiß leisten können/ kunstgründig gedolmetschet worden (Hille 1647, S. 9).

Ähnlich war Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658) überzeugt, dass die von den Gelehrten verachtete und depravierte deutsche Sprache „mit dem Evangelio erhaben/ ausgeübet und herrlich zu leuchten angefangen“ (Harsdörffer 1657, Widmungszuschrift, S. 9), ein Sprachaufschwung, auf dem die muttersprachlichen Philologen des 17. Jahrhunderts aufbauen konnten. Dabei werden Variantenabbau, Sprachausgleich und ‑ausbau nun zu einem Thema sui generis. Derselbe Harsdörffer stellte im Januar 1646 umstandslos fest, dass Luthers Schriften „fur keinen grund der rechtschreibung stehen“ könnten, da „er dem gebrauch derselben zeiten nachgehen müßen“, und es zudem

bey seiner urschrift nicht geblieben, sondern durch die Drucksetzer (Mecænates jgnorantiæ) nach und nach geendert worden. Zu dem ist D. Luther der Teutschen Sprache Cicero, aber nicht Varro gewesen. Ein Redner, aber kein Sprachlehrer. Seine wort sind unwiedersprechlich für angenem zu halten, aber derselben schreibung ist deswegen nicht richtig (Harsdörffer 1646, Bl. 338 r).

In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Rechtschreibung für die Sprachgelehrten des 17. Jahrhunderts nicht nur von der Aussprache, sondern, auch und besonders für Harsdörffer und Justus Georg Schottelius (1612–1676), von der Etymologie und Grammatik abhing. Ohne die Beachtung der Wortherkunft und der grammatisch-morphologischen Gesetz- und Regelmäßigkeiten scheitert demnach schon die Konstantschreibung innerhalb eines Wortparadigmas, scheitern sogar die korrekte Aussprache und die möglichst eindeutige Verbindung von Phonem und Graphem, ohne grammatische Steuerung bleibt die Rechtschreibung verloren in der zerklüfteten Sprachlandschaft der Mundarten, Idio‑, Dia- und Soziolekte. Ohne fixierte verbindliche Rechtschreibung aber auch keine Lexikographie, kein deutsches Wörterbuch, ohne deutsches Wörterbuch keine lehr- und lernbare deutsche Semantik usw. (Herz 2015)

Auf der Suche nach Normierungsautoritäten blieben Luther wie auch die Kanzleien noch lange maßgebende Größen – noch fehlten mustergültige literarische Vorbilder –, wenngleich die Veraltung der Luthersprache deutlich als Mangel wahrgenommen wurde. So sprach Philipp von Zesen (1619–1689) Luther das Verdienst zu, „die Hochdeutsche Spraache zu erst wieder ausgearbeitet und zu ihrem glantze gebracht“ zu haben (Zesen 1643, S. 24f.), während zur selben Zeit Christian Gueintz (1591–1651) relativierte:

Lutherus ist billich der Deutschen sprache in KirchenSachen Urheber/ die ReichsAbschiede in Weltlichen dingen die Hauptbücher/ Wie wol bey beyden/ weil sie von eintzelen Personen aufgesetzet/ auch zu der Zeit/ so wol als ietzo/ die Schreiber und Drucker oftmals gefehlet/ noch viel erinnerungen/ was die Rechtschreibung betrifft/ zu thun seind (Gueintz 1645, S. 5).

Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen (1579–1650), bis zu seinem Tode das Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, wusste scharf zu trennen zwischen grammatisch-orthographischer und theologischer Revision bei Eingriffen in die luthersche Bibelübersetzung: „Mein Seel, mus meine Seele heißen, und kan die Biebel darin gar wol gebeßert werden, dan [es] die lehre nicht angehet, sondern die Sprachlehre und wortschreibung“ (Fürst Ludwig: Erinnerungen, Bl. 228 v). Solcherlei Beanstandungen betrafen neben der Rechtschreibung sowohl den Lutherschen Wortschatz (etwa das veraltete mhd. Verb „thüren“ für „dürfen“) als auch unter anderem die bei Luther anzutreffende Initialstellung des >y< („ynn“/in; „Yr“/ihr), die nicht mehr gebilligt wurde, seine uneinheitliche und als fehlerbehaftet angesehene Wortbildung, häufige Apokopen („Vnser Aug“), syntaktische Barbarismen und Latinismen („Jr werdet finden das Kind“) und der Grobianismus seiner Streitschriften, „denn es bestehet die Reinligkeit und Zierde einer hochdeutschen Rede zu foderst darauf/ daß man sich guter Meißnischer/ und itziger Zeit gebräuchlichen Wörter/ und Arten im Reden gebrauche“ (Buchner 1966, S. 42). Noch einmal Fürst Ludwig:

Das auch in der deutschen Lutheri Bibel vie[le] druckfehler und wieder die deutsche gründliche sprachlehre b[e]funden seind, kan gar leichtlich vorgezeiget werden, dan die [recte: der] Endungen bey den Nenwörtern und vorne[n]wörtern [Nomen und Pronomen] anietzo zu geschweigen, nehme man nur die ze[hen] gebotte für, da wird man stracks im ersten den feh[ler] finden: Als da stehet du Solt kein’ ander[e] götter haben, das den heißen sol, du Solst kei[ne] andere götter haben […] (Fürst Ludwig 1644, Bl. 218 v).

Wenn Luthers Bibelübersetzung auch im 17. Jahrhundert ihren sakrosankten Status behauptete, dann nicht zuletzt aus theologischen und kirchenpolitischen Gründen. Hatten neuere Bibelausgaben wie die unter Herzog Ernst „dem Frommen“ von Sachsen-Gotha (1601–1675) erstellte sogenannte Weimarer oder Kurfürstenbibel wohlweislich auf eine sprachliche Revision des Luthertextes verzichtet und sich mit ausführlichen deutschen Glossen und Kommentaren begnügt (Weimarer Bibel 1641), so erstrebte Herzog August d. J. von Braunschweig-Wolfenbüttel (1579–1666) eine durchgängige Revision der Lutherschen Bibelübersetzung, ein Ende der 1630er Jahre aufgelegtes ambitioniertes Projekt, das den Widerstand der lutherischen Geistlichkeit unterschätzte, in den 1640er Jahren auf eine Modernisierung und Regulierung der Bibelsprache in Augusts Evangelischer Kirchen-Harmonie auswich und letztlich scheiterte. Das negative Gutachten der Leipziger Theologen zu Augusts Kirchen-Harmonie von 1648 stellte in seinem Schutzbemühen gegenüber dem lutherischen Bekenntnis unter anderem unmissverständlich klar, Luther sei „ein Kayser und Meister der deutschen Sprach“ (Gutachten 1648, S. 560; Herzog Augusts sprachreformerische Bibelprojekte sind präzise dokumentiert in Fruchtbringende Gesellschaft I.5, I.6 u. I.7). Einem „Kayser“ aber spuckt man nicht ohne Not in die Suppe, will man Turbulenzen vermeiden. Und die wurden von der lutherischen Geistlichkeit befürchtet, obwohl Herzog August in seiner Revision etwa mit der durchgängigen Beachtung der Flexionsmorphologie oder der sich im Frühneuhochdeutschen immer stärker durchsetzenden und heute im Deutschen charakteristischen Satzklammer mit Endstellung des finiten Verbs durchaus richtig lag.

Luther arbeitete seine Bibelübersetzung, die 1534 erstmals in allen Teilen erschienen war (Biblia Deudsch 1534), immer wieder durch bis zur Ausgabe letzter Hand (Biblia Deudsch 1545). Danach gab es zwar stillschweigende oder annotierte Veränderungen am Lutherschen Bibeltext, eine kirchenamtliche Revision der Lutherbibel wurde aber erst 1863 von der Eisenacher Kirchenkonferenz beschlossen. Ihre maßgeblichen Ziele waren Anpassungen an die Gegenwartssprache, bibelphilologische Verbesserungen und die Konstitution eines allgemein verbindlichen Bibeltextes. Über 100 Jahre arbeiteten verschiedene Revisionskommissionen an diesem Vorhaben, bis 1984 die revidierte Fassung vom Bund der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) verabschiedet wurde.

Luther war nicht der Schöpfer der deutschen Gemeinsprache, wohl aber ein wichtiges Bindeglied und ein entscheidender Katalysator in der Formierung einer differenzierten und standardisierten neuhochdeutschen Schriftnorm, die sich zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem späten 18. Jahrhundert in einem „ungesteuerten Zusammenwirken von Lexikographen, Grammatikern und Druckern sowie einer wachsenden Zahl von Textverfassern und Lesern“ herausbildete (Munske 1997, S. 208). In ganz Europa spielte die Bibelübersetzung bei der Formierung der jeweiligen Volkssprache eine entscheidende Rolle: „Im Ereignis der Übersetzung der Bibel sind natürliche Sprachen festgelegt, […] verwurzelt oder wieder verwurzelt worden“, und der Name „Luther“ galt Jacques Derrida als das „Emblem“, das diesen länderübergreifenden frühneuzeitlichen Prozess sinnbildlich verkörpert (Derrida 2005, S. 113). Heute besteht ein Forschungskonsens, dass Luthers reicher, ausgefeilter, vor allem ostober- und ostmitteldeutsche Sprachformen verbindender und ausgleichender Wortschatz mitsamt seiner Wortneubildungen, seine Phraseologie und stilistisch je nach Textsorte der biblischen Bücher variationsreiche Übersetzungskunst, überhaupt sein um Klarheit und Deutlichkeit bemühtes und zupackendes rhetorisches Vermögen als sein bleibendes Verdienst im frühneuhochdeutschen Sprachausbau anzusehen sind. Sogar der (später konvertierte) jüdische Kaufmannssohn und Kosmopolit Heinrich Heine (1797–1856) machte aus seiner Anerkennung Luthers keinen Hehl. Dessen Kirchenlied „Eine feste Burg ist unser Gott“ erschien ihm als Marseillaise der Reformation, die Fanfare einer neuen Glaubens- und Denkfreiheit. Wie die Sprache, „die wir in der Lutherischen Bibel finden, entstanden ist“, das wisse er, Heine, nicht.

Aber ich weiß, daß durch diese Bibel, wovon die junge Presse, die schwarze Kunst, Tausende von Exemplaren ins Volk schleuderte, die Lutherische Sprache in wenigen Jahren über ganz Deutschland verbreitet und zur allgemeinen Schriftsprache erhoben wurde. Diese Schriftsprache herrscht noch immer in Deutschland, […] und dieses alte Buch ist eine ewige Quelle der Verjüngung für unsere Sprache […]; und da dieses Buch in den Händen der ärmsten Leute ist, so bedürfen diese keiner besonderen gelehrten Anleitung, um sich literarisch aussprechen zu können. Dieser Umstand wird, wenn bei uns die politische Revolution ausbricht, gar merkwürdige Erscheinungen zur Folge haben. Die Freiheit wird überall sprechen können und ihre Sprache wird biblisch sein (Heine 1984, S. 79f.).

Andreas Herz

Literatur:

Bach 1974–1985; Basecke 1932; Bebermeyer/Bebermeyer 1993; Bergmann 1983; Bergmann/Moulin 1987; Besch 1987; Besch 1999; Besch 2003; Cornette 1997; Dietz 1870/72; Eichenberger/Wendland 1977; Grosse 1987; Habermann 1997; Knott/Brovot/Blumenbuch 2015; Lemmer/Sachse 1987; Luther 2015; Meiß 1994; Moulin-Fankhänel 1994/97; Reinitzer 2014; Stammerjohann/Auroux/Grossmann 2009; Volz 1978; Wegera 2007; Wolf 1985.