Die austauschbaren Reformatoren
Ein eindrucksvolles Zeugnis der Wittenberger Lutherverehrung des frühen 17. Jahrhunderts liefert ein Buch aus dem Besitz des Gräzisten Erasmus Schmidt (1570–1637), das im Bestand der ehemaligen Universitätsbibliothek Helmstedt erhalten ist. Es handelt sich um den äußerst erfolgreichen lateinischen Psalter des Helius Eobanus Hessus (1488–1540), den dieser 1537 dem Landgrafen Philipp von Hessen widmete. Erasmus Schmidt besaß ein Exemplar der Straßburger Ausgabe von 1545, in das er anscheinend selbst eine kolorierte Federzeichnung Luthers einklebte (Exponat). Das eher ungelenk ausgeführte Bild geht auf ein Porträt Lucas Cranachs d. J. zurück, das den alten Luther im pelzbesetzten Talar mit weißem Kragen ein geschlossenes Buch haltend zeigt und von dem ab 1539 zahlreiche Ausführungen entstanden (Friedländer/Rosenberg 1979, Nr. 423). Spätere Fassungen stehen dem vorliegenden Bild näher als die ersten bekannten, so die von 1546 aus dem Utrechter Museum Catharijneconvent (Inv. Nr. RMCC s107). Unmittelbare Vorlage war möglicherweise ein nach Cranach gestalteter Holzschnitt (bspw. Abb. 1; vgl. Kat. Nr. 42 und 43).
Hier entspricht die Handhabung des geschlossenen Buches durch Luther genau der im Psalter Erasmus Schmidts. Unterhalb des Porträts findet sich ein Gedicht von der Hand Schmidts, das wie der im Buch enthaltene lateinische Psalter in elegischen Distichen verfasst ist. (Die Handschrift ist durch Vergleich mit dem Besitzvermerk „Erasmus Schmit Delicianus“ auf der folgenden Haupttitelseite zu identifizieren.) Über dem Gedicht stehen kaum mehr lesbar die Worte „Hic prope Martini rursus“. Es handelt sich um den Anfang des von Johannes Stigel verfassten metrischen Gedichts für Luthers Epitaph in der Wittenberger Schlosskirche (1760 zerstört). Es begann: „Hic prope Martini rursus victura Lutheri, | in parvo tumulo molliter ossa cubant.“ – „Hier in der Nähe ruhen Martin Luthers Gebeine, die im Begriff sind, wiederaufzuerstehen, sanft in einem kleinen Grab.“ (Bellmann/Harksen/Werner 1979, S. 213; Text wiedergegeben in Hagmeierus 1637, Nr. 25, S. 21–23). Der Schreiber wollte anscheinend zunächst diesen Text reproduzieren, brach dann aber ab. Das dann folgende Gedicht lautet:
Si tibi non licuit coram spectare Lutherum
Et, quæ fluxerunt dulcibus ora favis.
Præsentisque Dei templum, uenerabile pectus.
Ingenuique oculos splendida signa uiri
Idque caput, quod virtutum thesaurus abundans,
Et doctrinarum fertilis arca fuit.
Hoc pictoris opus circumspice namque Lutheri
Non procul a uiuis uultibus illud abest.
Proxime ad externos habitus accedit, ocellos
Et frontem & nares osque genasque refert. ||
Sed quod mentis opes, aut repræsentet acumen
Nullus Apellæo stamine ducet opus.
Scilicet ingenij specimen mirabile, & alti
Pectoris, in scriptis edidit ipse suis.
Solus enim potuit proprias depingere dotes
Has igitur notas quisquis habere cupis.
Perlege concinno quos condidit ordine libros
Autoris referunt hi simulacra sui.
Ex his non tantum quæ sit doctrina Lutheri
Et mens, de sancta relligione patet.
Sed quoque qui fuerint mores illius, & acta,
Et quæ dexteritas, totaque vita liquet.
Übersetzung:
Wenn du nicht mit eigenen Augen Luther sehen durftest,
den Mund, der von süßem Honig überfloss,
die verehrungswürdige Brust, die ein Tempel des lebendigen Gottes war,
die Augen, die helle Anzeichen eines edelmütigen Mannes sind,
und den Kopf, der ein volles Reservoir an Tugenden
und eine ergiebige Schatzkiste an Gelehrsamkeit war,
dann schau dir dieses gemalte Werk sorgfältig an,
denn es unterscheidet sich wenig von Luthers realem Aussehen.
Es kommt an seine äußere Gestalt nahe heran,
es gibt die Augen, Stirn, Nase, Mund und Wangen wieder.
Aber ein Werk, das das Vermögen oder die Schärfe seines
Geistes wiedergibt, wird niemand mit dem Pinsel des Apelles malen.
Er hat nämlich selbst ein beeindruckendes Muster seines Verstandes
und seiner tiefen Einsicht in Gestalt seiner Schriften veröffentlicht,
denn nur er selbst konnte seine eigenen Gaben abbilden.
Wer immer du also diese kennen lernen willst,
lies die Bücher, die er in wohl geordneter Reihe verfasst hat.
Diese geben Abbilder von ihrem Autor wieder.
Aus ihnen wird nicht nur deutlich, was die Lehre Luthers
und seine Meinung über die heilige Religion ist,
sondern auch was seine Lebensart und seine Handlungen
und seine Gewandtheit war; sein ganzes Leben wird deutlich.
Der Typus des Gedichts über das Porträt eines Gelehrten entwickelte sich im 16. Jahrhundert im Kontext der Reformation und fand in der Frühen Neuzeit große Verbreitung (zur Gattung der Encomiastica in imagines siehe Morhof 1732, III, xii, S. 699). Sein Grundgedanke liegt in der Konfrontation von Porträt und schriftlicher Hinterlassenschaft als Quelle für die Darstellung einer Person. Dabei erscheint die Schriftlichkeit stets als das bessere oder adäquatere Zeugnis für die Person. Dank der Forschung Walther Ludwigs kann diese Gattung in ihrer Genese genau zurückverfolgt werden. Der früheste Beleg ist eine Medaille mit dem Bild des Erasmus, die Quentin Metsijs 1519 in Antwerpen herstellte. Sie trägt die Umschrift „Imago ad vivam effigiem expressa 1519. Την κρειττω τα συγγραµατα δειξει“ – „Als lebensechtes Porträt hergestellt 1519. Das bessere Bild werden die Schriften zeigen“ (Ludwig 1998, S. 125). Erasmus selbst legte Wert darauf, dass die Verbreitung seines Porträts mit einem Hinweis auf seine Schriften als den eigentlichen Ausdruck seiner Persönlichkeit verbunden war. Der Vergleich der Schriften einer Person mit einem Porträt kann sich auf verschiedene Stellen in der klassischen Literatur stützen (Ludwig 1998, S. 130–133). So erklärt der verbannte Ovid in seinen Tristiae (1,7,11ff.) seinem Freund in Rom, es freue ihn, dass dieser so oft sein Bild betrachte, aber die von ihm verfassten Metamorphosen seien ein größeres Bild (maior imago), und er solle lieber diese lesen. Die Innovation der Erasmus-Medaille besteht darin, diesen Gedanken in die Bildunterschrift eines Gelehrtenporträts umzusetzen. Der spätere Erfolg dieses Gedichttyps ist bedingt durch das Aufkommen reproduzierbarer Gelehrtenporträts im 16. Jahrhundert und durch den Einfluss von Humanismus und Reformation mit ihrer großen Wertschätzung für den Text. Nach Erasmus waren es vor allem zwei berühmte Reformatorenporträts, die mit ihren Bildunterschriften die Gattung des lateinischen Bildepigramms prägten. Lucas Cranachs Kupferstich mit dem Porträt Martin Luthers von 1520 enthält das vermutlich von Georg Spalatin verfasste Distichon: „Aetherna ipse suae mentis simulachra Lutherus | Exprimit. At vultus cera Lucae occiduos“ – „Das unvergängliche Abbild seines Geistes drückt Luther selbst aus, doch seine vergänglichen Gesichtszüge das Wachs des Lucas“ (Ludwig 1998, S. 134) (vgl. Kat. Nr. 10, Abb. 1). Von Eobanus Hessus oder Joachim Camerarius stammt das Distichon unter Albrecht Dürers Kupferstich-Porträt des Melanchthon von 1526: „Viventis potuit Durerius ora Philippi | mentem non potuit pingere docta manus“ – „Dürer konnte das lebensechte Gesicht Melanchthons malen, nicht aber konnte seine gelehrte Hand seinen Geist malen“ (Ludwig 1998, S. 136).
Vergleicht man das Gedicht, das Erasmus Schmidt in seinen lateinischen Psalter eintrug, mit diesen berühmten Mustern, so zeigen sich deutliche Abhängigkeiten. Die Gesamtstruktur entspricht der Medaillenaufschrift des Erasmus: Zuerst wird erklärt, dass das Bild der echten Person ähnlich sei (V. 1–10), dann wird ausgeführt, dass die Schriften ein besseres Bild liefern (V. 11–22). Dass Luther selbst ein Bild von sich gemalt habe (V. 15), hat eine Parallele bei Cranach, wo sich ebenso die prominenten Begriffe „mens“ und „simulachra“ aus V. 11 und 18 finden. Der zweite Vers des Dürer-Porträts („mentem non potuit pingere docta manus“) weist eine klare Parallele zu V. 15 („Solus enim potuit proprias depingere dotes“) auf. Weitere Parallelen bestehen zu einem Gedicht auf der Rückseite des 1531/32 von Holbein gemalten Melanchthonbildnisses: „tantum non“ (Ludwig 1998, S. 126f., vgl. V. 19) und „dexteritas“, das sich hier, passender als in Schmidts Psalter, auf die Geschicklichkeit des Künstlers, nicht des Dargestellten, bezieht (vgl. V. 22). Im Widmungsgedicht der Briefsammlung des Eobanus Hessus von 1543 begegnen wie in V. 12 das Wort „nullus“ und der Maler Apelles (Ludwig 1998, S. 141). Wie verbreitet die Topoi dieses Gedichts schon im späten 16. Jahrhundert waren, zeigt ein 1573 in Ingolstadt erschienener Einblattdruck mit einem Porträt des Juristen Nicolaus Everardi (1537–1586). Die meisten der begleitenden Epigramme auf den Rat eines katholischen Fürsten enthalten Topoi und Formulierungen der beschriebenen Gedichte auf Reformatoren. So zählt Sixtus Hatzler darin die Körperteile auf, die der Maler darstellen könne („Os, humeros, vultum & terrenos corporis artus“) und sagt dann, dass der Geist („ingenium“) nicht gemalt werden könne. Die „lebensechten Körperteile“ („vivos artus“) des Everardi drücke die Kunst aus („exprimit“), sie sei aber unkundig, den Geist zu skulpieren (Ossanaeus/Ranchinius/Hillebrand 1573).
Das Gedicht unter dem Lutherporträt des Erasmus Schmidt ist jedoch älter und einschlägiger, als es vor dem Hintergrund dieser Topik erscheint. Es handelt sich nicht um ein Gedicht des 17. Jahrhunderts, sondern um eines des 16. Autor ist der aus Hessen stammende Humanist Heinrich Moeller (1528–1567), der in den späten 1550er Jahren an der Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg lehrte, bevor er Gymnasiallehrer in Danzig wurde. Anlässlich des Todes von Melanchthon im Jahre 1560 erschien in Wittenberg sein elegisches Gedicht De obitu et exequiis reverendi viri D. Philippi Melanthonis. Dem Trauergedicht auf Melanchthon ist ein Epitaph sowie als letztes ein Gedicht In imaginem eiusdem (S. 28f.) beigefügt. Bezugspunkt ist ein dem Druck vorangestelltes Holzschnittporträt des Verstorbenen. Dieses Gedicht ist textidentisch mit dem handschriftlich von Erasmus Schmidt überlieferten, mit einer entscheidenden Ausnahme: Überall, wo bei Schmidt „Lutherus“ bzw. „Lutheri“ steht, stand im Original „Philippus“ bzw. „Philippi“. Die Nachnutzung eines Melanchthongedichts als Luthergedicht gelingt insgesamt reibungslos, schließlich handelt es sich um eine poetische Form, die im Prinzip auf alle Gelehrten, von denen Schriften überliefert sind, passt. Nur an zwei Stellen verliert das Gedicht durch den Bezug auf Luther an Plausibilität. Wenn in V. 17 von den Büchern, „die er in wohl geordneter Reihe verfasst hat“ die Rede ist, so passt das besser zu Melanchthons systematisch alle Bereiche der Philosophie abhandelnden Schriften als zu Luthers heterogenerem und häufiger anlassbezogenem Werk. Dass man, wie in V. 19f. behauptet, erst durch eine systematische Lektüre die religiösen Lehren Luthers erschließen könne, verwundert bei dem gerade durch seine eingängige Lehre populär gewordenen Reformator auch etwas.
Moellers Gedichte auf Melanchthon erfuhren im 17. Jahrhundert weitere Verbreitung, weil sie in die Anthologie der Delitiae poetarum Germanorum aufgenommen wurden, deren vierter Band 1621 in Frankfurt erschien (Gruterus 1621, S. 864f.). Die Vorlage für Schmidt war jedoch erkennbar der Wittenberger Druck von 1560, was angesichts des Ortes nicht verwundert. Beide Überlieferungen weichen in einem Punkt voneinander ab; in der Frankfurter Ausgabe heißt es in V. 4 „oculis“ statt „oculos“. Das Auftreten dieser Variante ist kein Zufall, denn im Hintergrund steht ein Zitat aus den Episteln des Horaz (1,19,34): „ingenuis oculisque legi manibusque teneri“ (Horatius 1995, S. 289). Eine weitere Parallelstelle zeigt, dass Moeller diese Epistel anscheinend auch als ein inhaltliches Vorbild im Sinn hatte. Horaz polemisiert gegen die Nachahmer großer Dichter: Wer nur den äußeren Habitus des Dichters nachmache, verhalte sich wie einer, der es dem sittenstrengen Cato durch Gesichtsausdruck und Kleidung gleich zu tun versuche (1,19,12–14). Moeller greift in V. 11 („repraesentet“) nicht nur sprachlich auf Horaz zurück, sondern er nimmt auch Bezug auf dessen Aussage zur begrenzten Leistungsfähigkeit einer das Äußere imitierenden Kunstform und nähert Melanchthon und Cato als moralisch vorbildliche Gestalten einander an.
Wann Schmidt seine Ausgabe des Psalterium Davidis mit Lutherporträt und Gedicht ausstattete, bleibt ungewiss. Seine Kenntnis des Wittenberger Drucks des Melanchthon-Gedichts und des Epitaphs aus der Schlosskirche macht es sehr wahrscheinlich, dass dies in Wittenberg geschah. Dort begann Schmidt schon 1590, im Alter von 20 Jahren, die alten Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren (Klenz 1891). Nach einem vergeblichen Versuch, Schulrektor in Ungarn zu werden, kehrte er 1597 als Professor für griechische Literatur nach Wittenberg zurück, eine Funktion, die er bis zu seinem Tod 1637 innehatte, seit 1614 in Verbindung mit dem Lehrstuhl für niedere Mathematik. Schmidt übte hohe akademische Ämter aus, darunter zweimal das Rektorat, außerdem wurde er vom Kurfürsten mit der Inspektion der Stipendiaten und der Visitation der Landesschulen betraut (Programma 1677, S. 410). Seine akademischen Arbeiten betreffen die altgriechische Grammatik und Literatur sowie die Philologie des Neuen Testaments. Die Psalmendichtungen des Eobanus Hessus dürfte er somit nicht unmittelbar für seine Lehrtätigkeit genutzt haben. Das Buch verweist vielmehr in zwei andere Gebrauchskontexte: Die Schulbildung sowie die persönliche Frömmigkeitspraxis.
Das Psalterium Davidis des Eobanus Hessus ist eine der verbreitetsten lateinischen Dichtungen des 16. Jahrhunderts (Bach/Galle 1989, S. 126–134). Die Erstausgabe erschien 1537 in Marburg und war dem Landgrafen von Hessen gewidmet (Hessus 1537). Bis 1601 erschienen nach dem Verzeichnis der Drucke des 16. Jahrhunderts 36 Ausgaben. Allein die Herzog August Bibliothek besitzt das Werk in über 20 Drucken aus dieser Zeit. Das Prestige des Werks beruht zum Teil darauf, dass es in direktem Kontakt zu Luther entstanden ist. Schon zuvor hatte Hessus im Auftrag von Luther und Melanchthon lateinische Psalmenelegien gedichtet. Seit der Ausgabe Halle 1538 erschien das Psalterium mit Empfehlungsbriefen von Luther und Melanchthon. Luther lobt Hessus darin überschwänglich für sein dichterisches Können; er sei der Erste und Einzige, der die Psalmen adäquat aus dem Hebräischen ins Lateinische umdichten konnte. Er freue sich an Hessus’ lateinischem Psalter noch mehr als an seinem eigenen deutschen (Hessus 1538, Bl. 6 r–7 r). Melanchthon freut sich über die emotional bewegende Wirkung der Metren, die er mit Musik gleichsetzt. Die Psalmendichtungen seien ein großer Dienst am Gemeinwesen, weil sie dem Verständnis der biblischen Texte dienten und die Jugend an die Dichtung heranführten (Hessus 1538, Bl. 7 v–8 v). Die besondere Wertschätzung, die Hessus’ Nachdichtungen erfuhren, entspricht der zentralen Stellung der Psalmen in der Frömmigkeitspraxis des Luthertums. In der Vorrede zu seinem deutschen Psalter von 1524 ruft Luther dazu auf, den Psalter als tägliches Gebetbuch zu nutzen. Er preist ihn als eine kleine Bibel, die in schönen Worten alles zusammenfasse, was in der großen Bibel vorkommt, und dem Gläubigen passende Worte für jeden Lebensumstand an die Hand gebe (Brown 2008, S. 241 f.). Auch Luthers Gebetbuch von 1522 stützt sich maßgeblich auf die Psalmen. Anstelle von Gebeten für jede Lebenslage gibt er eine Auswahl von acht Psalmen mit Angabe ihres Zwecks (Brown 2008, S. 239f.). Vor dem Hintergrund dieser Frömmigkeitstheologie ist das Bedürfnis nach lateinischen Nachdichtungen des Psalters zu verstehen. Die klassische Metrik und Dichtungssprache waren nur den gebildeten Schichten zugänglich. Für diese besaßen sie aber gerade wegen ihrer exklusiven Ausbildung einen hohen ästhetischen Wert. Lateinische Psalmendichtungen ermöglichten daher den Gebildeten eine Frömmigkeitspraxis, die ihren spezifischen intellektuellen und emotionalen Prägungen entsprach und es ihnen erlaubte, sich gleichermaßen vom ungebildeten Volk wie auch vom altgläubigen Klerus abzugrenzen. Nicht von ungefähr vermied Hessus in seinen Psalmendichtungen weitestmöglich Parallelen zum Text der Vulgata.
Benutzungsspuren in anderen Exemplaren des Psalterium Davidis zeigen, dass dieses Buch tatsächlich von akademisch Gebildeten als Ort der praktizierten Frömmigkeit genutzt wurde. In das Exemplar einer um 1538 in Zürich erschienenen Ausgabe schrieb der Besitzer auf der Haupttitelseite „Nunquam de manu et oculis tuis recedat hic liber“ – „Dieses Buch soll nie aus deinen Händen oder Augen kommen“ (Bayerische Staatsbibliothek München: 2512435 B.metr. 302 a). Dem Exemplar einer Leipziger Ausgabe von 1548 sind mehrere handschriftlich beschriebene Blätter vorgebunden (Universitätsbibliothek Mannheim: Sch 035/074). Sie enthalten Auflistungen der Bußpsalmen und von Psalmen für besondere Anlässe, insbesondere die Psalmen „die Martin Luther zu Lebzeiten allen Frommen besonders eindringlich zum Beten empfohlen hat“ („Index Psalmorum quos D. D. Martinus Lutherus in vita sua omnibus pijs magna cum diligentia ad orandum commendavit“). Die Liste entspricht den deutschen Psalmen in Luthers Gebetbuch. Weiter finden sich zwei handschriftlich eingetragene Gebete, die als „Gebet der Studenten“ („Oratio studiosorum“) und als „Anderes Gebet für einen glücklichen Fortschritt in den Studien“ („Alia precatio pro felici studiorum successu“) überschrieben sind. Abgeschlossen wird der Teil durch das Glaubensbekenntnis. Anstreichungen im Text selbst heben besonders Stellen hervor, die zu Gottvertrauen ermutigen und die Belohnung der Gerechten und Bestrafung der Ungerechten in Aussicht stellen. Ähnliche Anstreichungen enthält auch das Exemplar des Erasmus Schmidt: In Psalm 1 unterstreicht er die Worte „Felix ô nimium felix, qui facta […] Impia conspiciens“ – „O überaus glücklich, wer die gottlosen Taten sieht [und ihnen nicht folgt]“ sowie die letzten vier Verse. In Psalm 37 sind die Worte hervorgehoben: „Dilige quæ bona sunt, rectum cole, iusta require, | Hæc faciens, alma pace beatus eris“ – „Erwähle, was gut ist, betreibe das Richtige, suche das Gerechte. Wenn du das machst, wirst du mit seligem Frieden beschenkt sein“ (H: A 192.8° Helmst., S. 26f. u. 120).
Die Lutherverehrung hatte in Wittenberg zur Zeit von Erasmus Schmidt aber auch eine politische Dimension. In seine Amtszeit als Professor fiel sowohl 1602 das hundertjährige Jubiläum der Universität als auch 1617 das von Luthers Thesenanschlag. Beide wurden ausgiebig mit Festakten, Gottesdiensten und Predigten begangen. Von Schmidt selbst sind zwei Reden zu diesem Thema überliefert, die er als Dekan der Philosophischen Fakultät am 8. April 1617 hielt. Die erste hielt er aus Anlass des 115-jährigen Universitätsjubiläums, die zweite zu einer am selben Tag stattfindenden Magisterpromotion. In beiden Reden zeigt Schmidt eine kämpferisch orthodoxe Haltung und postuliert eine göttliche Auserwähltheit Wittenbergs und eine perfekte Harmonie zwischen Luther und Melanchthon, die gemeinsam diese Universität vom Unglauben gereinigt hätten. Als Thema der ersten Rede wählt Schmidt die Zustände vor der Reformation. Er zeichnet das Bild einer von Aberglaube und Gottlosigkeit beherrschten Kirche und exemplifiziert es am Franziskanerorden und seinem Gründer. Am Schluss steht ein Gebet um den Schutz der wahren Kirche vor ihren Feinden, endend mit dem Appell: „Euch alle, ihr Zuhörer, aber erfülle Gott mit vollkommenem Hass auf den Papst“ („Vos vero omnes, o Auditores impleat Deus perfecto odio Papæ“; Schmidt 1619, S. 40). Die zweite an diesem Tag gehaltene Rede widmet sich dem Thema der Jubiläen. Schmidt erläutert die Bedeutung dieses Begriffs im Alten Testament und unterbreitet davon ausgehend eine Art Skandalgeschichte des Heiligen Jahres von Bonifaz VIII. bis zum Jahr 1600. Von dieser „unförmigen Nachäffung des Alten Testaments“ hebt er die Jubiläumsfeiern evangelischer Universitäten als eine rechtmäßige Danksagung an Gott für die Reinigung und den Erhalt seines Wortes ab. Als gemeinsames Gebet zu diesem Anlass stimmt er Psalm 122 („Laetatus sum in his quæ dicta sunt mihi“) an (Schmidt 1619, S. 59). Schmidt kontextualisiert Psalm 122 hier in einer Weise, die bis auf wörtliche Parallelen dem Einführungstext in seiner Ausgabe des Psalterium Davidis entspricht. Das gilt sowohl für den Grundgedanken – Dank an Gott für die bisherige Erhaltung des Wortes, Bitte, das auch zukünftig zu tun – als auch für wörtliche Parallelen („gratias agere, conservatio, ecclesia Christi“), die zeigen, dass Schmidt seinen lateinischen Psalter intensiv benutzt hat (Hessus 1545, Ps 122, S. 355).
Als Beiträge zur lutherischen Memorialkultur stehen die Reden Schmidts in Wittenberg keineswegs isoliert da. Sie gehören zu einem Typus von Rede, der sich schon nach dem Tod Melanchthons 1560 auszubilden begann. Einflussreich waren insbesondere die Lutherpredigten des Johannes Mathesius von 1566 (Hasse 2002; Gummelt 2002). Die Autoren plagiierten sich dabei mit großer Selbstverständlichkeit gegenseitig. Schmidt greift für seine Oratiuncula de Iubilæis bei der Magisterpromotion auf eine Predigt zurück, die der Theologe Salomon Gesner 1602 am hundertjährigen Gründungstag der Universität gehalten hat. Grundlage war eben jener Psalm 122, den Schmidt als Gebet anfügt. Zugleich bietet Gesners Predigt die Vorlage für die von Schmidt dargelegte Geschichte des Heiligen Jahres und der Päpste. Überliefert war Gesners Predigt in deutscher Übersetzung in seinem umfänglichen Psalmenkommentar von 1605. Die enge Verbindung von lutherischer Frömmigkeit und Psalmenrezeption zeigt sich deutlich in der Einfügung einer volkssprachlichen Predigt zum Reformationsjubiläum im Rahmen eines gelehrten theologischen Kommentars.
Die starke Abgrenzung von der Papstkirche sowie die Betonung der Einigkeit von Luther und Melanchthon kommen im Wittenberg des frühen 17. Jahrhunderts nicht von ungefähr. Sie sind die Folge schwerer Auseinandersetzungen zwischen Philippisten und orthodoxen Lutheranern um das Erbe Melanchthons. Diese waren zu Ungunsten der Melanchthonschüler entschieden worden, als Kurfürst August 1574 fast alle Professoren der Theologischen Fakultät absetzen und des Landes verweisen ließ. Das bedeutete keine posthume Verurteilung Philipp Melanchthons, vielmehr wurde behauptet, die Professoren hätten Melanchthons Lehre böswillig falsch interpretiert, um ein calvinistisches Abendmahlsverständnis einzuführen (Hasse 1997, S. 438–442; Nieden 2006, S. 98–100). Die nach 1574 neu eingesetzten Theologen bedienten sich erkennbar des Lutherkultes, um den Frieden an der Universität wiederherzustellen und ihre Loyalität gegenüber dem Landesherrn zu beweisen (Hasse 1997).
Wenn Erasmus Schmidt ein Melanchthongedicht in ein Luthergedicht umschreibt, so geschieht das nicht aus einer Ablehnung Melanchthons. In seiner Jubiläumsrede stellt er Luther und Melanchthon als Lichtgestalten auf eine Ebene (Schmidt 1619, S. 35). Eine von ihm besorgte Edition der Grammatik Melanchthons versucht diese als kanonisch für den Schulunterricht zu etablieren, wenn auch mit der Bemerkung, Melanchthon habe nicht die Zeit gehabt, allen Aspekten der Grammatik gerecht zu werden (Schmidt 1621, Bl. )( )(3 vf.). Dennoch ist es bezeichnend für die konfessionspolitischen Verhältnisse in Wittenberg nach 1574, dass Luther und Melanchthon gewissermaßen austauschbar werden. Weil es keine theologischen Differenzen zwischen Luther und Melanchthon gegeben haben durfte und weil die isolierte Verehrung von Melanchthon den Verdacht des Philippismus erregen konnte, bot sich ein solcher Kontextwechsel an. Dass der Autor Heinrich Moeller ein Melanchthonschüler gewesen war, der Wittenberg kurz nach dessen Tod verlassen hatte, erleichterte zudem die Aneignung seines Gedichts.
Hartmut Beyer
Literatur:
Bach/Galle 1989; Bellmann/Harksen/Werner 1979; Brown 2008; Friedländer/Rosenberg 1979; Gummelt 2002; Hasse 1997; Hasse 2002; Klenz 1891; Ludwig 1998; Nieden 2006.