Das Wunder von Molsheim
Was geschah im Juli des Jahres 1614 im elsässischen Jesuitenkolleg Molsheim? Eine vermutlich wenig später gedruckte Flugschrift von acht Seiten Umfang kolportiert neben zwei anderen Neuigkeiten die Kunde,
Wie die Jesuiten eine Comoedi zu Moltzheim agirt und gehalten/ und Herrn Doctorem Lutherum durch einen Teuffel zerreissen wollen (Drey newe Zeitung 1614, Titelblatt).
Der Vorfall, von dem die Newe Zeitung berichtet, soll sich im Jesuitenkonvent von Molsheim, einem der bedeutendsten Kollegien im Elsass, etwa zehn Kilometer westlich von Straßburg zugetragen haben. 1614 habe es dort eine anderweitig nicht belegte Aufführung mit Martin Luther als Dramenfigur gegeben, bei der es zu einem blutigen Zwischenfall mit tödlichem Ausgang gekommen sein soll (Drey newe Zeitung 1614, verso Titelblatt).
Der Ablauf der Aufführung wird in der vorliegenden Quelle wie folgt dargestellt: Martin Luther findet sich aufgrund seiner reformatorischen Bestrebungen auf Erden als Verdammter in der Hölle wieder, stiftet dort jedoch weiterhin Unruhe, „desßwegen denn ihn die Teuffel nicht dulden köndten oder wollen“ (ebd.). Es kommt zu einer Verhandlung vor einem „Gericht von Teuffeln besetzt“ (ebd.), wobei in Anklang an apostolische Zusammenkünfte zwölf Teufel auftreten, darunter auch Luther in der Position von Judas Ischarioth. Dem Bericht zufolge sah der Handlungsverlauf vor, dass der elfte Teufel Luther auf der Bühne in Stücke reißt, weshalb der Schauspieler entsprechend präpariert worden war: „welcher arme Luther denn vnter den Kleidern mit Ingeweid vnd Därmen voller Blut gefüllt gewesen“ (ebd.). Das „Wunder von Molsheim“ (Janssen 1886, S. 555) scheint darin bestanden zu haben, dass nicht Luther – wie im Stück vorgesehen und im Titel der Newen Zeitung angekündigt – als Höhepunkt eines Theaterspektakels von den Teufeln zerrissen wurde, sondern dass „mit grossem Geschrey“ ein dreizehnter Teufel erschien und den Schauspieler, der im Drama den Teufel gab, der Luther töten sollte, „in Angesicht des Volcks zu stücken [zerreißt]/ daß ihm das Herzt vnd Ingeweid vor die Füß gefallen/ welches mit grossem Schrecken/ zittern vnd zagen von dem vmbstehenden Volck augenscheinlich gesehen“ (ebd.). Die Lutherfigur entgeht damit der festgesetzten drastischen Vernichtung auf offener Bühne. Aber kann man der schriftlichen Überlieferung einer solch überzeichneten Aufführungsanekdote trauen? Ein ‚echter‘ Teufel, der dem teuflischen Theaterspektakel durch eine Mordtat ein Ende setzt? Hat es diese misslungene Aufführung respektive die zur Aufführung gebrachte Komödie und damit das „Wunder von Molsheim“ wirklich gegeben? „Wer sagt das? […] Wer bezeugt das? […] Wer hat diß gesehen?“, fragt auch der Lastwagen, So mit vnerhörtem Last von lauter Lugen vnd Lesterungen […] vberladen von 1615 in Bezug auf diese und andere in der Newen Zeitung kolportierte Anekdoten wider die Jesuiten (Gretser 1615).
Der Wolfenbütteler Druck ist ein erweiterter Nachdruck eines in Basel in der Offizin von Ludwig König (1572–1641) verlegten ‚Berichts‘ (Zwo newe Zeitung 1614). Schon die Druckgeschichte offenbart bei näherer Betrachtung, dass die Flugschrift im Rahmen von interkonfessionellen Spannungen zu sehen ist, die sich im Raum um Straßburg und Basel im Zuge der Gegenreformation vor Beginn des Dreißigjährigen Krieges verschärften. Denn der Basler Verleger Ludwig König, dessen Biographie nur rudimentär überliefert ist, übernahm erst 1615 die Offizin von Konrad Waldkirch in Basel und war zuvor nur als Verleger tätig (vgl. Kettler 2008, S. 960). Um die Urheberschaft dieser Schmähschrift gegen die Jesuiten in der Newen Zeitung entbrannte ein Disput, denn König wehrte sich in einem Brief dagegen, der Flugschrift, die auch Kardinal Bellarmino (1542–1621) verhöhnte und diesem einen äußerst überzogenen promiskuosen Lebenswandel unterstellte, zum Druck verholfen zu haben. Insofern der Erstdruck schon ungesichert und zumindest der Drucker fingiert zu sein scheint, trifft dies umso mehr auf den Nachdruck zu, der ja selbst weder Ort noch Drucker nennt, sondern rückbezüglich nur anführt: „Erstlich gedruckt zu Basel durch Ludwig König/ Im 1614. Jahr“ (Drey newe Zeitung 1614, Titelblatt). Da kein Verfasser der Flugschrift genannt ist, wollte König mit seinem Brief wohl Vorsorge treffen, nicht der Verbreitung solcher Pasquillen bezichtigt zu werden, um seinen guten Ruf als Verleger internationaler Publikationen nicht zu gefährden (zu den jesuitischen Erwiderungsschriften von Jacob Grether und Manoit, die bereit 1615 gedruckt wurden, siehe Bellarmino 1887, S. 287 ff., bes. Anm. 2).
Die Jahre rund um das erste Jubeljahr 1617 waren im straßburgischen Raum von reformatorischer wie gegenreformatorischer Propaganda geprägt, von der auch das 1580 gegründete Molsheimer Jesuitenkolleg mit seiner regen Theatertätigkeit nicht unberührt blieb. Acht Dramen sind allein in der Zeit von der Gründung des Kollegs bis zum Beginn des Dreißigjährigen Kriegs überliefert, darunter Iudicium Salomonis (1586 und 1587), Joseph Aegypticus (1593) und Absalon (1606) (vgl. Hanstein 2013, S. 44). Die Molsheimer Bühne war äußerst innovativ, denn es wurden auch Dramenstoffe aufgeführt, die bis dato ohne Vorbilder im deutschen Sprachraum waren und von dort ausgehend eine größere Rezeption erfahren haben, so ein Constantinus Corpronymus. Das mag hier insofern interessieren, als das Stück, das im unmittelbaren Umfeld der vermeintlichen Luther-Komödie im Jahr 1615 aufgeführt wurde, die Geschichte Kaiser Konstantinos' V. (718–775) verhandelte und damit belegbar Elemente der Diffamierung einer Person im Zuge des Konfessionsstreits ins Zentrum der Inszenierung rückte: „Man wird es in Molsheim sicherlich verstanden haben, den Kampf des Konstantinos gegen seinen Stiefbruder, seine blasphemischen Ausfälle gegen die Mutter Gottes und den Reliquienkult sowie die Marter des heiligen Stephanus im Namen gegenreformatorischer Propaganda zu inszenieren“ (ebd., S. 45).
Das Molsheimer Jesuitenkolleg erlangte im Zuge der Gegenreformation schnell an Bedeutung und wurde 1613 um ein Priesterseminar erweitert. Nach etlichen Bemühungen gelang es 1617 sogar – von lutherischer Seite aus ein äußerst unpassender Termin –, das Privileg zur Gründung einer katholischen Universität mit Promotionsrecht zu erhalten, die zeitweilig bedeutender war als die Universität in Straßburg. Molsheim avancierte damit zum Zentrum der Gegenreformation im Elsass. Dass Stücke mit kontroverstheologischen Inhalten gegen das lutherische Straßburg auf dem Spielplan standen, ist naheliegend (vgl. ebd., S. 46). Zugleich scheint es aber auch einen regen Austausch zwischen dem Straßburger Akademietheater und der Jesuitenbühne in Molsheim gegeben zu haben, denn es existieren auch Quellen, denen zufolge protestantische Besucher bei den Jesuiten-Aufführungen belegt sind (vgl. ebd., S. 47 ff.), und das trotz der Streitigkeiten, die gerade um das Reformationsjubiläum von 1617 herum aufflammten. So liest man beispielsweise in einer in Molsheim erschienenen polemischen Schrift über das „unerhörte Jubelwesen“ des Jahres 1617:
Wer kann die Schreiberey/ Malerey/ Jubelpatenten/ Jubelreimen/ JubelLieder/ Jubelpfennig/ Jubelspredigten/ JubelScartecken/ vnnd das gantze Jubelwesen erzehlen noch beschreiben? (Roest 1620, Bl. a3 v).
Eine drastische, antilutherische Aufführung in Molsheim erscheint angesichts solcher Klagen gegen das protestantische Jubelwesen nicht sonderlich abwegig. Ob das Schultheater von Molsheim zu derartigen inszenatorischen Ein- bzw. Ausfällen fähig war, wie uns die Newe Zeitung glauben machen will, ist mit Blick auf die tragischen Stoffe, die gewöhnlich auf dem Spielplan standen, allerdings sehr fragwürdig. Dass man für die Verunglimpfung Luthers in die unterste Schublade griff, zeigen andererseits auch Texte wie Thomas Murners Schmähschrift Von dem grossen lutherischen Narren (1522), die Luther in einer Latrine enden lässt (Kat. Nr. 20). Schon früh hatten die Gegner der Reformation mit solchen äußerst derben Diffamierungen Luthers begonnen und dies nicht nur in gelehrten Disputationen, sondern auch in allen anderen zur Verfügung stehenden Gattungen durchkonjungiert. Neben der Erzähltradition der protestantischen Tendenzsage, die Luther in ein positives Licht zu rücken wusste und ihn mit religiösem Eifer kontinuierlich überhöhte, zeigt sich die Figur des Reformators im kulturellen Gedächtnis demnach auch in der katholischen Antilegendenbildung stabil, die ein negatives Bild des Reformators kolportierte und vor Drastik nicht zurückschreckte. Die Gattung Drama schien besonders geeignet, solchen Unterstellungen ausdrucksstarke Sinnhaftigkeit zu verleihen, und kann im 15. und 16. Jahrhundert überhaupt als „das eigentliche große Kommunikationsmedium“ angesehen werden (Roloff 1980, S. 766; vgl. auch Metz 2013, S. 46). Entsprechend erscheint es nicht verwunderlich, wenn auch Martin Luther als Dramenfigur schon früh die Bühne betritt und von beiden Lagern wie von der einsetzenden Publizistik, die dies aufgreift, instrumentalisiert wird (Kat. Nr. 16). ‚Vorbildhaft‘ für diese Gattung, die vor allem in der Volkssage fruchtbaren Boden fand, waren Ketzerviten, Antichrist-Dramen und Teufelsbündnergeschichten. Teufel hatten als Antagonisten im geistlichen Drama Konjunktur, wie etwa Jakob Bidermanns Cenodoxus (um 1602), eines der wirkmächtigsten Jesuitenstücke, belegt, in dem Teufel eine gewichtige Rolle spielen. Teufel treten auf der Theaterbühne als Spielfiguren häufig und gern auch zu mehreren in Erscheinung. Das Motiv der Teufelsversammlung gehört schon in die Spieltradition des Mittelalters (siehe dazu grundlegend Lampe 1963). Es gibt aber auch eine Reihe vergleichbarer Mitteilungen über kuriose oder missglückte Theaterdarbietungen jesuitischer Dramen (vgl. Schilling 2008, S. 248), darunter auch etliche, die sich mit Teufelsgeschichten verbinden, welche als göttliche Vorhersehung oder Zeichen gedeutet wurden: „Der beliebte Topos der Vermehrung der Teufel auf der Bühne erscheint ebenso wie derjenige von Unglücksfällen und Katastrophen in zeitlicher Nähe zu Aufführungen“ (Metz 2013, S. 292, Anm. 963; vgl. ähnlich Hanstein 2013, S. 595).
Bemerkenswert ist, dass die dramatische Lutherfigur hier in teuflischer Verkehrung selbst als Judas unter die Teufel rückt. Nicht allein, dass sein Lebenswerk damit unter den Generalverdacht gestellt wird, einen Aufenthalt in der Hölle zu garantieren, entsteht darüber hinaus die im Grunde paradoxe Situation, dass sich sogar die Versammlung aller Teufel gegenüber einem solchen Geist ratlos sieht und ihn nicht in den eigenen Reihen dulden will. Luther wird damit in der Logik der vermeintlichen Aufführung gleichermaßen aus dem christlichen Heils- wie Höllenversprechen ausgeschlossen. Was jedoch als antilutherisch gemeinte Propagandainszenierung der Jesuiten gedacht war, schlägt laut der hier vorliegenden publizistischen Inanspruchnahme ins Gegenteil um. In der Schmähschrift der Newen Zeitung werden die Jesuiten demnach mit ihren eigenen Mitteln geschlagen. Doch was bedeutet es, wenn ein ‚echter‘ Teufel einen Jesuiten-Schauspieler auf offener Bühne zerfleischt, so dass „zittern vnd zagen“ das Publikum erfassen? Sollen sich die Jesuiten über den Vorfall entsetzen und erkennen, dass sie selbst Kinder des Teufels waren (vgl. Franz 1980, S. 92)?
Die Newe Zeitung gibt sich deutlich als anti-jesuitisch zu erkennen. So werden weitere vermeintliche Aufführungskatastrophen angeführt – pointiert eine inszenierte Verbrennung Luthers in Wien, wobei das gesamte fürstliche Kolleg in Brand gesteckt worden sei –, woraus die Flugschrift unmissverständlich ableitet:
Aus diesem solten die Jesuiter freylich als in jhrem eignen Schaden gelernet haben (Drey newe Zeitung 1614, Bl. Aii r).
Dass der Bericht aus Molsheim eine „vber alle massen hohe und vnbegreiffliche Narrheit ist“ (Gretser 1615, S. 60), die voller Widersprüche steckt – beispielsweise, dass „nemblich kein Teuffel den andern außtreibe“ (ebd.) –, erläutert die bereits erwähnte, vom bedeutenden jesuitischen Gelehrten Jakob Gretser (1562–1625) verfasste Erwiderungsschrift, die 1615 in Ingolstadt gedruckt wurde. Diese nimmt sich jedes Arguments des vermeintlichen Molsheimer Wunders an und legt dessen Widersinnigkeit als dichterisches Unvermögen, „Lugen […]/ Lesterungen/ Verleumbdungen/ Sycophantereyen […] vnd Ehrnverletzliche Schmachreden“ (ebd., S. 62) dar. Die Authentizität der Nachricht ist demnach bereits von Zeitgenossen angezweifelt worden, die Anekdote bleibt mehr als fragwürdig. Weder sind andere Quellen oder Berichte des Ereignisses bekannt, noch ist eine entsprechende Komödie als Textfassung überliefert. Dass die Flugschrift eine theatral geplante Diffamierung Luthers ihrerseits zur Diffamierung der Jesuiten nutzt, ist vielmehr Teil einer interkonfessionellen Auseinandersetzung im 17. Jahrhundert, die zwischen Propaganda und Polemik changiert und bei der Banales wie Theologisches genauso wenig argumentativ voneinander zu trennen sind wie Faktisches und Fiktionales (vgl. auch Paintner 2011, S. 392 ff.).
Constanze Baum
Literatur: