Die Familie Luther am Christabende 1536
Ist dem Bild zu trauen? Versammelte sich die Familie Martin Luthers mit zwei Mitstreitern des Reformators und einer zum Haushalt gehörenden Tante am Weihnachtsabend 1536 wie dargestellt unterm Christbaum? Bilder können viel zeigen und noch mehr erzählen. Wenn das Abgebildete glaubhaft erscheint, verleitet es dazu, für bare Münze genommen zu werden. Reale oder fiktive Personen, zumal wenn sie in einem Handlungszusammenhang auftreten, setzen automatisch eine Erzählung in Gang. Das Bild, das auf einen Stahlstich des Weimarer Hofkupferstechers Carl August Schwerdgeburth (1785–1878) von 1843 zurückgeht, führt eine Situation vor Augen, die durchaus vorstellbar ist. Aber hat sie sich historisch so ereignet?
In einem hohen, getäfelten Raum steht in der linken Ecke ein großer Stufenofen. In die rechte Wand ist ein mit Bleiglasrundungen versehenes Doppelfenster eingelassen, das einen schmalen Erker abschließt. Im Zentrum befindet sich ein massiver Holztisch, auf dem oder direkt hinter dem ein Weihnachtsbaum mit Engelsfigur als krönender Spitze platziert ist. Unter den Zweigen liegen eine Spielzeugarmbrust, ein Reiter auf einem Pferd, mindestens zwei Bücher sowie Nüsse oder Äpfel. Um den Tisch herum sind Personen gruppiert, deren Identifikation prima vista teilweise gelingt. Martin Luther ist erkennbar schon an seiner zentralen Position und der bekannten Physiognomie als die Figur mit der Laute. Ihm zur Rechten dürfte seine Frau Katharina von Bora, genannt Käthe bzw. die Lutherin, sitzen, die wohl Margarethe, das jüngste der fünf Kinder auf dem Schoß hält. Hinter ihr, abgestützt auf die Stuhllehne, steht bequem Philipp Melanchthon, der wie Luther physiognomisch markiert ist. Wer die restlichen Anwesenden sind, ist von Wilhelm Beste (1817–1889) zu erfahren. Demnach handelt es sich bei dem deklamierenden Jungen vor dem Fenster um Johannes, den ältesten Sohn Luthers. Schräg vor ihm steht Magdalene, die älteste Tochter, nächst dem Kantor an der kursächsischen Hofkapelle in Torgau und späteren Kapellmeister Johann Walther, „unter dessen Leitung in Luther’s Hause theils zum reinen und idealen Lebensgenusse, theils zur Milderung und Verklärung der Sitte des Hauses, häufig gespielt und gesungen wurde.“ (Beste 1846, S. 17). Auf Käthes Knien wippt ferner der zweite Sohn namens Martin, während Paul, der dritte Sohn, mit einer Spielstockfigur in der Hand links neben Luther steht. Die Frau direkt am Ofen soll Muhme Lene sein: gemeint ist Magdalene von Bora, eine Tante Käthes und wie diese ehemalige Nonne im Zisterzienserinnenkloster Nimbschen.
Der Braunschweiger Pastor Wilhelm Beste hielt anlässlich des 300. Todestages des Reformators am 17. Februar 1846 „in den literarischen Abendunterhaltungen zu Braunschweig“ einen Vortrag zu „Luthers Kinderzucht“. Unter anderem bezog er sich auf den Stich Schwerdgeburths, der mit Veränderungen von unbekannter Hand dem publizierten Vortrag auch als Frontispiz dient. Schwerdgeburth hat zwischen 1843 und 1862 noch sieben weitere Momentaufnahmen aus dem Leben Luthers geschaffen und daraus eine thematisch zusammengehörige Serie geformt (Kat. Coburg 1980, S. 166, 170). Der Luther-Verehrer Beste will „in das Haus Luther’s“ eintreten, um zu zeigen, „wie Dr. Martin Luther thatsächlich seine Kinder erzog.“ Im Kreis seiner Familie habe Luther „die Reformation der deutschen Kirche vergessen“, seine Kinder habe er reformiert
nicht durch viel Predigen, das den Leib müde macht, sondern durch seine ganze kinderfreundliche Erscheinung, durch sein ganzes gemüthreiches, inniges Sein und Treiben. Da erzählte er seinen Kindern von dem lieben Gotte, klimperte die Laute, blies die Flöte oder neckte seine Käthe, die ein Kind auf den Armen trug, das durch die runden Scheiben in den Garten sah (Beste 1846, S. 11 f.).
Die Privatsphäre der Familie Luther imaginiert Beste als Vorstellungsbild, das der Vorlage sehr ähnlich ist. Hier wie dort tritt Luther nicht als willensstarker Reformationsstreiter, sondern als frommer Familienvater auf, der in trauter Runde in einer Atmosphäre bürgerlicher Gediegenheit seinen Platz einnimmt und für musikalische Begleitung sorgt. Der Stahlstich, so Beste, treffe den „Sinn und Ton in Luthers Hause richtig“, denn Luther erfülle „durch das behagliche und glückliche Sein, Lieben und Geben, Leben und Weben unter seinen Kindern […] die nothwendige Anforderung, die er an Aeltern stellt, ‚eine zarte, feine, lustige Obrigkeit der Kinder zu sein.‘“ (Beste 1846, S. 17f.).
Sogenannte „Lutherlebenillustrationen“, zu denen Schwerdgeburths Grafik zählt, gibt es spätestens seit 1700. Anders als die lange Lutherbildnis-Tradition, die seit dem frühen 16. Jahrhundert kontinuierlich Porträts und allegorische Darstellungen des Reformators hervorbringt, stellen die Lutherlebenfolgen zumeist ein verbürgtes Ereignis aus seiner Vita vor Augen. Die graphischen Zyklen nehmen ab den 1820er Jahren infolge des erwachenden Nationalbewusstseins in Deutschland stark zu, wobei Vorbildfiguren wie Luther Konjunktur haben. Zugleich erscheinen zuhauf illustrierte Biographien des berühmten Kirchenmannes. Schwerdgeburth – übrigens auch andere Zeichner und Verleger, etwa Wilhelm Baron von Löwenstern (mit einer Serie, die ab 1827 erschien) und Ernst T. Jäkel (der zwischen 1840 und 1846 eine illustrierte Lutherbiographie veröffentlichte) – orientiert sich zum Teil intensiv an der Graphikfolge Peter Carl Geißlers (1802–1872), die um 1825 im Nürnberger Bilderbogenverlag von Friedrich Campe erschienen war (Abb. 1). Geradezu frappierend ähnlich gestaltet sind in zwei Szenen aus den beiden Serien, die Luther im Kreis der Seinen zeigen, das räumliche Ambiente, das traute Beisammensein der Familienmitglieder und der Reformator als musizierender pater familias (Kat. Coburg 1980, S. 8f., 18, 89 ff., 172 ff.; Strehle 1993, o. P.).
Was also ist von Schwerdgeburths Bild zu halten? Natürlich war Martin Luther auch Vater, Ehemann und Familienoberhaupt, natürlich haben die Luthers zusammen mit Melanchthon und der Muhme Lene, womöglich auch mit Johann Walter gemeinsame Weihnachtsabende verbracht. Sicher aber saßen sie noch nicht unter einem Christbaum. Dieser findet erst ab 1642 als Weihnachtsdekor Verwendung in Privathaushalten. Für Wittenberg ist der entsprechende Einsatz des Nadelbaums noch später, nämlich im 18. Jahrhundert belegt. Hinzu kommt, dass sich Familien erst im ausgehenden 18. Jahrhundert unter einem Weihnachtsbaum zu versammeln pflegten, weil zu dieser Zeit ein bürgerliches Familienleben den notwendigen Rahmen schuf (Brunner 2011, S. 12; Kat. Coburg 1980, S. 171). Was den Aspekt der Ehe- und Familiengemeinschaft anbetrifft, so bezeichnete Luther die Ehe als ein „weltlich Ding“. Die partnerschaftliche Gemeinschaft sollte von Dauer sein, konnte aber geschieden werden, wenn sie dysfunktional geworden war. Die Ehe schloss ganz natürlich Sexualität ein und Kinder gingen unvermeidlich wie erwünscht aus der Vereinigung von Mann und Frau hervor. Einen Haushalt ordentlich zu führen und Kinder zu erziehen, bedeutete für Luther ein göttliches Werk (Luther 2016, S. 72–78). Luthers Ehe- und Familienkonzept beschwört noch keine Geborgenheit, Intimität im Kreis der Nächsten und zärtliche oder sogar liebevolle Gemeinschaftlichkeit, wie sie auf den gezeigten Bildern zu sehen sind. Diese Modifikationen ergeben sich erst später, wobei konfliktreiche Entwicklungsstufen zu überwinden sind. Man denke nur an die bürgerlichen Trauerspiele, in denen die allzu vertrauten menschlichen Dramen in der bürgerlichen Klein-Familie avant la lettre vorgeführt werden. Seit dem späten 18. Jahrhundert tritt eine Harmonisierung in der (repräsentierten) Familie ein. Es ist vor allem
die Malerei […], die einen wichtigen Beitrag dazu leistet, ein neues bürgerliches Leitbild der Familie und die damit verbundenen Rollenmodelle zu instituieren. […] Auf diesen Gemälden tritt die emotionale Aufwertung der Eltern-Kind-Beziehung besonders in der Darstellung des Vaters hervor, der als zärtlicher Ehemann und liebevolle Bezugsperson der Kinder porträtiert wird (Koschorke u. a. 2010, S. 22).
So unzeitgemäß Martin Luther bei Schwerdgeburth und Geißler als Ehemann und Vater erscheint, so kulissenhaft und anachronistisch wirkt das räumliche Ambiente in den beiden Bildern. Es ist ebenfalls vom biedermeierlichen Zeitgeist und Stil inspiriert. Geißlers Bild expliziert zwar in seiner Unterschrift, dass das Luther-Zimmer „der Wirklichkeit treu nachgebildet“ zu sehen sei und dass Luther „die edle Musica […] ungemein hoch [schätzte]“; es handelt sich bei dieser Formulierung jedoch eher darum, den mimetischen Wirklichkeitsstatus der Darstellung zu beteuern.
Geißler wie Schwerdgeburth malen bzw. kolportieren eine Geschichte der Geschichte, sie historisieren den Wittenberger und erfinden ihn dabei zum Teil neu. Nicht als Held, Arbeitstier und Kraftmensch wird Luther bestätigt, sondern als fürsorglicher Familienvater inszeniert. Er steht im Zeichen des Biedermeier, insofern diese vielschichtige Zeit (ca. 1815–1845) auch den Rückzug ins Private propagiert, ein Kleinfamilienidyll betont und Hausmusik, Wohninterieur und generell einer konservativen Bürgerlichkeit große Bedeutung beimisst. Die so geprägte Kulturproduktion und Ästhetik spiegelt sich in den Luther-Gestaltungen. Wilhelm Bestes Evokation, die auf Schwerdgeburths Bild als ikonische Bestätigung und Verstärkung für das verbale Argument rekurriert, imaginiert Luther ebenfalls als Gewährsmann eines biedermeierlichen Familienidylls, dem eine ordnungsstiftende Vorbildwirkung zukommt.
Das Repertoire an graphischen Luther-Inszenierungen lässt keinen Zweifel: Jede Zeit schafft ihr eigenes Lutherbild. Antlitz, Erscheinung und Pose des Reformationsinitiators wandeln sich entsprechend den historischen Überzeugungen und Bedürfnissen, dem Geschmack und Kunstverständnis. Luthers Person wird jeweils überformt, die Wahrnehmungen und Intentionen reichen von ihrer Verherrlichung über die Verspottung bis hin zur radikalen Ablehnung und Verunglimpfung. Immer wird Luther instrumentalisiert. Das Bild Schwerdgeburths bildet keine Ausnahme, trotzdem hat es seinen ästhetischen Reiz und seinen Wert als historisches Zeugnis. Letzteres nicht in dem Sinne, dass es den historischen Luther näher brächte, sondern dass es Aufschluss darüber gibt, wie man sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Luther vorstellte und wünschte.
Jörn Münkner
Literatur:
Brunner 2011; Kat. Coburg 1980; Koschorke u. a. 2010; Strehle 1993.