Luthers Totenmaske
Ihr hohes Ansehen, ihren Kultstatus verdankten Totenmasken durch die Jahrhunderte ihrer Entstehung und Verbreitung nicht zuletzt durch ihr Versprechen von Naturtreue und Authentizität. Im Rahmen der Herrscher‑, Gelehrten- oder Dichterverehrung sollten sie für die Bewahrung des „letzten Gesichts“ ihres Trägers ebenso bürgen wie für eine vermeintlich mit dem letzten Atemzug zur Vollkommenheit gelangte und ins Abgussmaterial eingeprägte Erscheinung seines Genius’. Die Abnahme der Totenmaske diente also mehreren Wünschen zugleich: Sie wollte Physiognomie sicher überliefern, den Geist in seiner körperlichen Manifestation konservieren, den Tod diesseitig lesbar machen und die Unsterblichkeit des Toten garantieren.
Wie wirklichkeitsnah und authentisch ihr dies gelingen konnte, zeigt das Beispiel der Totenmaske von Martin Luther, die im Deutschen Literaturarchiv Marbach in zwei Ausführungen unterschiedlicher Provenienz aufbewahrt wird. Beide Abformungen gehen laut Katalogverzeichnung auf den vermutlich mit Hilfe von Gipsabdrücken entstandenen originalen Wachsabguss zurück, sie könnten in Ausdruck und materieller Beschaffenheit aber nicht unterschiedlicher sein. Obwohl es sich bei beiden Masken um Gipsabformungen handelt, zeigt die eine (Abb. 1) den Reformator mit tief zerfurchtem, durch unbearbeitete Gussnähte horizontal und vertikal zerteiltem Gesicht. Sie trägt am Oberkopf ein Metallplättchen, dem der Name des ehemaligen Hallenser Kunsthandelshauses Tausch & Grosse eingeprägt ist, und stammt aus der dem Deutschen Literaturarchiv Marbach 1974 übereigneten Sammlung von Adolf und Carl Donndorf. Die andere (Exponat Nr. 9) hingegen bietet Luthers geglättetes und um die Seitenpartien samt Ohren beschnittenes Konterfei.
Die Entstehung der Originalvorlage liegt im Dunkeln: Obwohl Luthers betontermaßen friedvoller, sein gottgefälliges Leben widerspiegelnder Tod am 18. Februar 1546 in Eisleben durch handschriftlich niedergelegte Sterbeberichte reich dokumentiert wurde und zum „protestantischen Propagandainstrument“ reüssieren konnte (Kornmeier 2002, S. 347), gibt es keine zeitgenössischen Belege für die Abformung seines Gesichtes. Lange Zeit wurde angenommen, dass diese von dem aus Halle stammenden Maler Lukas Furtenagel (1505–1550) vorgenommen wurde, den Luthers engster Vertrauter, der Theologe und Humanist Justus Jonas (1493–1555), ans Totenbett geholt hatte. Als möglich wurde auch erachtet, dass die Totenmaske erst am 20. Februar 1546 während der Überführung des Leichnams von Eisleben nach Wittenberg bei einer Zwischenstation in der Hallenser Liebfrauenkirche abgenommen wurde (Benkard 1927, S. 56). Furtenagel, der mit der in Italien entwickelten künstlerischen Technik des Natur- und Körperabgusses bestens vertraut gewesen sein konnte (Kornmeier 2002, S. 349), fertigte neben Totenmaske und Handabgüssen auch die bei allen späteren Authentizitätsprüfungen der Lutherschen Physiognomie immer wieder herangezogene Zeichnung Luther auf dem Totenbett an (Kupferstichkabinett Berlin: KdZ 4545). Möglicherweise planten Jonas und der Maler gemeinsam eine Grabmalskulptur, vielleicht sollten die Abgüsse aber auch der Anfertigung einer bei Begräbniszeremonien als Leichenersatz gezeigten Funeraleffigie dienen (Kornmeier 2002, S. 349–351). Die aktuelle Forschung zweifelt an der Existenz einer authentischen Totenmaske und geht davon aus, dass die Überlieferungsgeschichte auf einer „möglicherweise lokalpatriotisch gefärbten Legende“ basiert (Birkenmeier 2011, S. 191).
Sicher ist indes, dass Wachsmaske und Handabgüsse im 17. Jahrhundert wesentlicher Bestandteil einer nach humanistischer Bildtradition und Gelehrtenikonographie montierten und in der Hallenser Marienbibliothek aufgestellten Sitzfigur wurden, die ihrerseits die spätere Lutherikonographie maßgeblich beeinflusste (Abb. 2). Bei dieser Gelegenheit wurden möglicherweise durch den mit der Bearbeitung der Sitzfigur betrauten Maler Lucas Schöne maßgebliche Veränderungen an der Wachsmaske vorgenommen, weshalb heutige Abbildungen von dieser den verlebendigten Luther zeigen (Hertl 2002, S. 120). Einige der überlieferten Lutherbilder sind weniger Porträts denn Ansichten der Hallenser Schaufigur (Kornmeier 2002, S. 357).
Das noch bis ins 19. Jahrhundert mit Selbstverständlichkeit als authentisch wahrgenommene Abbild des Reformators wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts einer Echtheitsprüfung durch den Hallenser Arzt und als Vorkämpfer der nationalsozialistischen Rassenkunde wirkenden Anthropologen Hans Hahne (1875–1935) unterzogen (Birkenmeier 2011, S. 199), für Luthers tatsächliche, jedoch stark bearbeitete Totenmaske befunden und bei dieser Gelegenheit, im Abgleich mit Cranachs zu Lebzeiten entstandenen Luther-Bildnissen, in idealisierter Form neu abgegossen. Seiner „gereinigten“ Totenmaske (Hahne 1933, S. 5) fehlen, wie der Marbacher Variante auch, unter anderem Wangen- und Ohrenpartien.
Es lässt sich kaum mehr rekonstruieren, zu welchem Zeitpunkt die Marbacher Totenmasken mit dem vermeintlichen Original in Berührung kamen, ob sie tatsächlich von der umstrittenen Wachsmaske von Furtenagel, einer überarbeiteten Fassung von Lucas Schöne, in Abgleich mit der idealisierten Variante von Hahne (dies könnte vor allem bei B 1998.0371 der Fall sein), herrühren oder ob sie gar aus der Produktion einer Leipziger Firma stammen, die Ende des 19. Jahrhunderts Gipsreproduktionen von Luther in Umlauf brachte – augenscheinlich aber durfte Luthers Antlitz auch in der schwäbischen Totenmaskensammlung, die heute zu den größten ihrer Art zählt (Davidis 1999, S. 37), keinesfalls fehlen.
Ellen Strittmatter
Literatur:
Benkard 1927; Birkenmeier 2011; Davidis 1999; Hahne 1933; Hertl 2002; Kornmeier 2002.